U16-Europawahl in Berlin: Teenager, TikTok und 38 Thesen

Bei den Europa-Wahlen bleiben unter 16-Jährige außen vor. Am Freitag haben über 20.000 Berliner Kinder und Jugendliche immerhin symbolisch gewählt.

Das Bild zeigt ein Kind bei der U16-Europawahl am Freitag in Berlin

Früh übt sich: Die U16-Europawahl am Freitag in Berlin Foto: U16/U18-Landeskoordinierungsstelle Berlin

BERLIN taz | Im Flur der Hemingway-Schule an der Gartenstraße in Mitte drängen sich am Freitagmittag zahlreiche Schü­le­r*in­nen um mehrere große Banner, auf denen die Thesen des Wahl-O-Mats stehen. Auf ihrem Unterrichtsprogramm steht an diesem Tag die U16-Europawahl.

Vor nicht allzu langer Zeit hieß U16 noch U18. Das hat sich erledigt. In diesem Jahr dürfen erstmals auch über 16-Jährige über die Zusammensetzung des Europaparlaments mitentscheiden. Doch hier geht es vor allem um die nicht stimmberechtigten Kinder und Jugendlichen unter 16.

Die Hemingway-Schule beherbergt eines der berlinweit rund 190 „Wahllokale“ für die U16-Wahl, die bereits gut eine Woche vor der „richtigen“ Europa-Wahl stattfindet. Und vor ihrem Gang an die symbolische Wahlurne können die Kids der Integrierten Sekundarschule mithilfe der besagten Wahl-O-Mat-Thesen herausfinden, welche Parteien mit ihren eigenen politischen Überzeugungen am meisten übereinstimmen.

Das soll das Interesse an demokratischen Prozessen fördern, sagt Roland Keiner von der Landeszentrale für politische Bildung, der die Jugendlichen durch den Wahl-O-Mat führt. Eine „Wahlempfehlung“ soll das Ergebnis ausdrücklich nicht sein, sondern lediglich der Orientierung dienen.

Analog ist Trumpf

Der „Wahl-O-Mat zum Aufkleben“ funktioniert zunächst analog, wie ein Lochkartensystem. Die Schü­le­r*in­nen können ihre Zustimmung oder Ablehnung durch das Anbringen von roten und grünen Stickern auf den Bannern ausdrücken. Am Ende erhalten sie ein Wahl-O-Mat-Ergebnis – digital errechnet und ausgedruckt. Der „Wahl-O-Mat zum Aufkleben“ umfasst, wie das entsprechende Onlinetool auch, 38 Thesen und alle zur Wahl zugelassenen Parteien.

„Von der Partei habe ich noch nie was gehört“, sagt eine Schülerin überrascht, als sie ihr Ergebnis erhält. Auf die Frage, ob sie sich für Politik interessieren, antworten die meisten ihrer Mit­schü­le­r*in­nen etwas verschämt mit einem: „Eigentlich nicht so“. Bei näherer Nachfrage wird gleichwohl klar, dass sie konkrete Sorgen und Forderungen haben.

So wünschen sich Julius, Elvis und Ygitefe, alle 14 Jahre, dass der Tier- und Klimaschutz von der Politik ernster genommen wird. Auch sollten sich die Ber­li­ne­r:in­nen die Mieten wieder leisten können. Stattdessen kämen „Leute mit viel Geld, die schöne Altbauwohnungen kaufen und die Berliner rausschmeißen“.

Auch Suzete und Zura, beide 15, sorgen sich nicht nur um den Tierschutz, sondern auch um den Alltag und die Politik an sich: die Inflation, die AfD und ihr Erfolg auf TikTok. Die beiden berichten, dass die AfD ständig in ihren Feeds lande.

Politische Vorbildung über TikTok

Julian Keltenich unterrichtet Politikwissenschaft in einer 9. Klasse. Er sagt: „Die Schüler und Schülerinnen sind ständig mit Fake News und Einseitigkeit auf Social Media konfrontiert, dagegen müssen die Schulen jetzt verstärkt anarbeiten.“

Das bestätigt auch Keltenichs Kollegin Thea Jacob, ebenfalls Lehrerin für Politikwissenschaft. „Die Jugendlichen holen sich ihre politische Vorbildung auf TikTok“, sagt Jacob. Ein Beispiel: Nach dem Erdbeben in der Türkei Anfang vergangenen Jahres war einer ihrer Schüler überzeugt, dass die Naturkatastrophe durch eine Spezialwaffe der Amerikaner ausgelöst wurde, TikTok sei Undank. „Das ist nicht gut“, sagt Jacob.

Anders als Julius, Elvis und Ygitefe, Suzete und Zura dürfen die 16-jährige Emira und ihr gleichaltriger Mitschüler Ben bei der „richtigen“ Europawahl am 9. Juni ihre Stimme abgeben. Laut Wahl-O-Mat haben beide die größte Übereinstimmung mit der Linkspartei. Am stärksten beschäftige sie die Klima- und Bildungskrise, sagen Emira und Ben.

Sie berichten von Lehrer*innenmangel, aber auch vom Frust über fehlende Mitbestimmungsrechte in der Schule, um dann grundsätzlich zu werden: „Wir kriegen total Druck von Eltern und Lehrern.“ Klar, ohne einen Abschluss fänden sie „keinen guten Job“. Aber viele ihrer Mit­schü­le­r*in­nen fragten sich, „warum sie Abi machen und noch länger in der Schule bleiben sollen, wenn eh nichts funktioniert, wie es sollte“.

Das fange schon mit dem Frühaufstehen an. „Und dann wird von uns erwartet, dass wir uns 10 Schulstunden lang alle 45 Minuten mit einem neuen Thema beschäftigen. Das ist nicht gut geregelt.“ Emira und Ben sagen, sie wollen am Sonntag in einer Woche wählen gehen.

Erschreckende Ergebnisse für die AfD

An der U16-Wahl beteiligen sich am Freitag über 20.000 Schü­le­r*in­nen in ganz Berlin. Nach Auszählung aller Stimmen siegt zumindest hier mal die SPD mit 19,2 Prozent, gefolgt von den Grünen mit 17,6 Prozent und der CDU mit 16,6 Prozent. Die Linke landet bei 9,6 Prozent – nur extrem knapp vor der AfD, die unter den Großstadtkids auf erschreckende 9,5 Prozent kommt.

Emir und Ben aus Mitte sagen, ihnen mache die AfD Angst. „Wir haben viele Ausländer und viele Kulturen in Deutschland, und das ist auch gut so, finde ich“, erklärt Emira, und Ben ergänzt: „Ich habe Angst, dass, wenn die AfD an die Macht kommt, Freunde von mir abgeschoben werden.“

Anm. der Red.: In einer früheren Version des Beitrags fanden sich zu den Ergebnissen der U16-Wahl in Berlin Daten vom Freitagabend, die allerdings nur vorläufig waren. Die finalen Ergebnisse wurden erst am Montag veröffentlicht. Wir haben die Angaben korrigiert.

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