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Twitterkanal zur ReichspogromnachtZwitschern gegen das Vergessen

Vor 75 Jahren begann die systematische Judenverfolgung in Deutschland. Fünf Historiker erzählen die Ereignisse nach – in Echtzeit auf Twitter.

SA-Männer riefen bereits vor der Reichspogromnacht zum Judenboykott auf. Bild: dpa

BERLIN taz | „In Kassel werden gerade Kultgegenstände der Synagoge in der Unteren Königsstraße auf dem Vorplatz zerstört und verbrannt." So lautet eine Nachricht auf dem Twitterkanal @9nov38 vom Donnerstagabend, den 7. November 2013. Das Ereignis, über das berichtet wird, hat genau 75 Jahre vorher stattgefunden.

Der Kanal ist Teil eines unabhängigen Projekts von fünf Geschichtsstudierenden und Absolventen verschiedener deutscher Universitäten. Sie nutzen Twitter, um die Ereignisse der Reichspogromnacht lebendig werden zu lassen. Damals töteten Nazis innerhalb weniger Tage 400 Menschen jüdischen Glaubens, verbrannten Synagogen und zerstörten Geschäfte. Historiker sehen in den Geschehnissen den Übergang von der Ausgrenzung der Juden zu ihrer gezielten Verfolgung in der Nazizeit.

Die Idee für das Projekt stammt von Moritz Hoffmann. Inspiriert habe ihn der MDR-Twitterkanal @9nov89live aus dem Jahr 2012, erklärt der Doktorand an der Universität Heidelberg. Damals erzählten Reporter des Senders den Mauerfall durch Echtzeit-Posts von Zeitzeugen und fiktiven Personen nach.

Die Echtzeit ist auch in dem Projekt der fünf Historiker ein wichtiger Bestandteil. „Was wir am 9. November 2013 schreiben, ist am 9. November 1938 passiert“, heißt es auf der Internetseite. Anders als bei dem MDR-Projekt gibt es aber keine Posts von fiktiven Personen, sondern nur Informationen aus der Realität. Dazwischen werden immer wieder Bilder von originalen Quellen eingebettet, beispielsweise von Schlagzeilen aus der Nazipresse.

Die Quellen beziehen die Macher des Angebots aus Stadtarchiven und aus der neueren Forschungsliteratur. Sie berichten nicht nur über die Ausschreitungen der Nazis, sondern auch über die Hintergründe. Der Leser erfährt von der Ermordung des deutschen Diplomaten Ernst von Rath durch den 1935 aus Deutschland geflohenen Juden Herschel Grzynspan, die die Nazis für ihre Progrome instrumentalisierten. Der Alltag der Juden wird durch Anzeigen in jüdischen Gemeindeblättern illustriert, in denen für Umzugsunternehmen und Schrankkoffer geworben wurde. „Auswanderer kaufen direkt vom Hersteller“, heißt es in einer Annonce.

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Das Projekt geht über den Twitterkanal hinaus. In ihrem Blog veröffentlichen die Historiker Informationen zu Themen wie der nationalsozialistischen Pressepolitik - wobei diese Texte eher im Stil wissenschaftlicher Abhandlungen. Unter der Rubrik „Quellen“ werden einige Zeitdokumente in voller Länge vorgestellt, wie etwa Postkarten von Angehörigen Grzynspans.

Projekt läuft bis Ende November

Das Projekt begann am 28. Oktober, dem Jahrestag der Ausweisung polnischer Juden. Historiker gehen davon aus, dass dieses Ereigniss Grzynspan zum Attentat auf von Rath motivierte. „Es endet wohl Ende November, weil wir uns auf die Progrome fokussieren“, kündigt Hoffmann an. Um die spätere Judenverfolgung zu thematisieren, reichten die Mittel nicht. Nach Unterstützung ihrer Universitäten hätten die Macher nicht angefragt, sagt Hoffmann. „Wir hatten auch nicht mit dieser Resonanz gerechnet."

Auf der Internetseite soll nach Ende November eine kleine Datenbank eingerichtet werden, auf der sich Literaturangaben zu den Tweets finden. 9nov38 wird somit weiterleben und könnte zum Vorbild für ähnliche Projekte werden, die Geschichte interessierten Laien nahebringen könnten.

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9 Kommentare

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  • MH
    Martin Hoffmann

    Kleine Korrektur: Die Idee zu dem Projekt stammt nicht von mir, Martin Hoffmann, sondern von Moritz Hoffmann, mit dem ich weder verwandt, noch verschwägert bin. Ich war gemeinsam mit vielen Kollegen vom MDR nur letztes Jahr für das Projekt @9Nov89live verantwortlich. Schwierige Gemengelage, das. ;)

    • @Martin Hoffmann:

      egal wer die Idee zu diesem Projekt hatte, was hat sich in Deutschland verändert, oder hat sich in Deutschland irgend etwas verändert?

  • Die sog. Reichskristallnacht auf twitter? Interessant und beängstigent zugleich.

  • H
    Heinar

    Ich verstehe gar nicht warum hier so abgekotzt wird. Ich finde die Idee gut und interessant. Das ist ne einmalige Sache und wird sich vermutlich nächstes Jahr nicht wiederholen, und in 25 Jahren gibt's eh kein Twitter mehr.

     

    Oder ist meinen Vorrednern das zu langweilig weil die Marschgeräusche von Guido Knopp nicht zu hören sind?

  • Ich faende es weitaus sinnvoller und adaequater, wenn deutsche Historiker anstelle solcher aufmerksamkeitsheischender und ethisch fragwuerdiger Projekte endlich ihre eigene Fachvergangenheit gruendlich aufarbeiten und dabei auch nationalsozialistische Kontinuitaeten nach 1945 in den Blick nehmen wuerden. Was will uns eine Disziplin ueber eine Vergangenheit aufklaeren, die sie selbst nicht wirklich verarbeitet, sondern verdraengt und totgeschwiegen hat und zu der ihr somit immer noch (bzw. nun in verstaerktem Masse auch wieder) die innere Distanz fehlt?

  • N
    Nichweggucken

    Vielleicht könnte man das Geschehen mit einem persönlichen Familienerlebnis verbinden z.B.als zum 80. Geburtstagh meiner Tante Käthe der Käsekuchen im Ofen verbrannte und zeitgleich aus der Synagoge gegenüber die Flammen schlugen.

  • B
    Blechstein

    Was kommt als nächstes - der Beginn des 2. Weltkrieges mit dem Überall auf den Sender Gleiwitz?: "Ab 5.45 Uhr wird zurückgeschossen!"

  • B
    Blechstein

    Einen Zwitschern gegen und für das Vergessen ist keine Lösung.

  • B
    Beinehochundbierauf

    Ja bitte, erzählen sie das noch einmal mit der Reichs-Kristallnacht, aber ganz genau und lassen sie kein Detail aus.

    Ich werde mich jetzt zurücklehen und jede Kleinigkeit entspannt in mich aufnehmen.