Türkisch-griechischer Konflikt um Erdgas: Auf Kollisionskurs
In der türkischen Bucht von Kas liegt die kleine griechische Insel Kastelorizo. Im Streit um Seerechte in der Ägäis ist sie zum Zankapfel geworden.
Wir sind Freunde. Wir kennen uns doch alle, wie sich Nachbarn eben kennen“, sagte einer der Männer. „Ja, wir sind zwar Nachbarn“, sagt ein anderer, „aber wir sind im Krieg.“ Kopfschütteln bei den einen und heftiges Nicken bei den anderen. Die Gruppe aus zehn älteren Herren, die um einen Tisch vor dem zentralen Taxistand von Kas sitzen und hier ihre Zeit totschlagen, ist sich uneinig.
Es ist heiß an der türkischen Mittelmeerküste in diesen Septembertagen. Das Thermometer steigt ab Mittag regelmäßig über 35 Grad Celsius, was das Städtchen am Meer in eine Art Dämmerzustand versetzt. Rund um den Hafen liegt das Zentrum der 60.000-Einwohner-Stadt. Am begrünten zentralen Platz dominieren die Restaurants, Teehäuser und Boutiquen, in den dahinter liegenden kleinen Gassen findet sich eine Mischung aus Galerien, Kleinkunstläden, Cafés und Bars. Es ist nicht viel los in Kas: Coronabedingt sind viele Touristen nicht angereist. Da sorgt ein ausländischer Reporter, der etwas über Meis wissen will, wie die griechische Insel Kastelorizo im Türkischen heißt, für ein wenig Abwechslung.
Einer der Herren, mit wettergegerbtem Gesicht, grauem Bart und buschigen Augenbrauen, der sich als Ahmet vorstellt und sein Leben lang mit einem kleinen Boot in der Bucht von Kas gefischt hat, schwärmt von vergangenen Zeiten. „Ich bin mit meinem Boot immer rübergefahren nach Meis und habe dort einen Schluck getrunken“, erzählt er. „Wir sind doch wie Brüder. Es gibt sogar eine Moschee dort“, sagt er. Leider kann man sich selbst davon nicht mehr überzeugen. Die kleine Fähre, die vor der Coronapandemie zwischen Kas und Kastelorizo hin und her pendelte, fährt schon seit März nicht mehr. Keine Griechen kommen mehr zum Einkaufen nach Kas und keine Touristen besichtigen die griechische Insel direkt vor der türkischen Küste.
Eine kleine Insel und ein großes Seegebiet
Doch auch ohne Corona wäre der Verkehr zwischen Kas und Kastelorizo wohl eingestellt, aus politischen Gründen. Zwar hat es in den griechisch-türkischen Beziehungen immer einmal wieder kritische Phasen gegeben, aber so angespannt wie jetzt war das Verhältnis schon lange nicht mehr. Seit die Türkei am 10. August damit begonnen hat, in dem Seegebiet zwischen Kas und Rhodos mit dem Forschungsschiff „Oruc Reis“ nach Gasvorkommen unter dem Meeresboden zu suchen, steht Kastelorizo unversehens im Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen Griechenland und der Türkei. Denn während die Türkei darauf pocht, auf ihrem Festlandssockel, der mindestens 200 Seemeilen weit ins Meer hineinragt, die Bodenschätze des Meeres ausbeuten zu können, definiert Griechenland seine ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) auf dem Meer anhand der griechischen Inseln vor der türkischen Küste.
Damit kommt das winzige Eiland Kastelorizo ins Spiel. Nach griechischer Auffassung haben auch kleine Inseln eine ausschließliche Wirtschaftszone von 200 Seemeilen, weshalb der Türkei zwischen Kastelorizo und der nächstgelegenen griechischen Insel Rhodos 130 Kilometer westlich nur eine schmale Küstenzone bliebe, Griechenland aber über eine durchgängige AWZ bis nach Zypern verfügte.
Die völkerrechtliche Grundlage für die Festlegung dieser ausschließlichen Wirtschaftszonen zur Ausbeutung des Meeres ist das 1994 in Kraft getretene UN-Seerechtsabkommen. Danach müssen zwischen benachbarten Staaten strittige Gebiete entweder durch direkte Verhandlungen oder durch ein Schiedsverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag geklärt werden. Bis dahin ist die Ausbeutung der umstrittenen Gebiete nach UN-Recht zu unterlassen.
Entsprechend sind die Forschungsaktivitäten in dem Gebiet, die die Türkei wochenlang mit dem Schiff „Oruc Reis“ unternommen hat, illegal. Doch die Situation ist kompliziert. Zum einen hat die Türkei das UN-Seerechtsabkommen bis heute nicht unterzeichnet. Zum anderen vermuten Seerechtsexperten, dass die griechischen Ansprüche vor dem Internationalen Gerichtshof wohl nicht standhalten würden.
Furcht vor einer Eskalation
„Das ist doch wohl ein schlechter Witz“, sagt Nurettin Kaya. Wir sitzen auf seinem Ausflugsboot im Hafen von Kas, von wo aus man die Häuser in dem einzigen Dorf auf Kastelorizo gut sehen kann. Der Tourismusunternehmer und Tauchlehrer zeigt empört auf die griechische Insel, die wie ein Stöpsel vor der Bucht von Kas liegt. „Dieser Fleck mit gerade einmal 300 Bewohnern, diese kleine Insel nur drei Kilometer vor unserer Haustür, soll der Grund dafür sein, dass das gesamte Meer den Griechen gehört?“ Nicht nur Nurettin Kaya ärgert sich über diese „Anmaßung“ der griechischen Regierung. „Wir sind hier immer gut miteinander ausgekommen“, erzählt er. „Mit den Leuten hier oder auf Kastelorizo hat der Streit überhaupt nichts zu tun. Es ist die Politik, die unser Zusammenleben zerstört.“
Kaya befürchtet, dass die Situation weiter eskalieren könnte. Seine Heimatstadt Kas ist ein bekanntes Mekka für Taucher. Die bis zu 3.000 Meter hohen Gipfel des Taurusgebirges fallen hier teilweise fast senkrecht ins Meer. Kas ist an den Hang gebaut, alle Wege münden am Hafen. In normalen Zeiten hat Nurettin Kaya im Sommer Hunderte ausländische Kunden, die zum Tauchen nach Kas kommen. Schon wegen der Coronapandemie waren es dieses Jahr nur eine Handvoll Enthusiasten. Sollte jetzt aber auch noch scharf geschossen werden, würde wohl gar niemand mehr kommen.
Kastelorizo hatte am vergangenen Sonntag seinen Ehrentag. Gefeiert wurde die Befreiung von der Besatzung im Zweiten Weltkrieg, so wie jedes Jahr mit griechischen Fahnen an den Balkons und in den Straßen und einem feierlichen Gottesdienst in der orthodoxen Kirche der Heiligen Konstantin und Helena. Griechenland bekommt davon normalerweise nur wenig mit, begeht doch jeder Ort ähnliche historische Ereignisse. Aber in diesem Jahr liegt das Gedenken auf der fernen Insel im Fokus des Interesses, ist doch Staatspräsidentin Katerina Sakellaropoulou höchstpersönlich nach Kastelorizo gereist – nicht zuletzt, um mit ihrer Präsenz ein Zeichen an die Türkei zu senden, dass Kastelorizo unumstritten ein Teil Griechenlands ist und die Türkei weder die Souveränität Griechenlands noch die Meereszonen, die von der Insel ausgehen, infrage stellen darf.
„Erdoğan ist größenwahnsinnig“
Kastelorizo habe sehr wohl diese Aufmerksamkeit verdient, sagt Nikos Papagiannis. Der 66-Jährige steht etwa 560 Kilometer von Kastelorizo entfernt vor einem Zeitungskiosk in der Athener Innenstadt und schaut sich die Titelblätter der Zeitungen an. Nach dem verheerenden Brand in Moria und der dramatischen Situation der Flüchtlinge auf Lesbos ist der Streit mit der Türkei um Bodenschätze und Hoheitsrechte wieder zum Thema Nummer eins geworden. Dass die griechische Regierung nicht im Alleingang gegen die Türkei vorgehen will und Verbündete sucht, dabei innerhalb der Europäischen Union und insbesondere in der Person des französischen Staatspräsidenten Emanuel Macron Unterstützung gefunden hat, findet Papagiannis gut. „Wir haben es bei Erdoğan ja mit einem Größenwahnsinnigen zu tun, mit einem unberechenbaren Diktator, der sich das Osmanische Reich zurückwünscht“, sagt er. Die EU müsse Erdoğan endlich in die Schranken weisen. Gegen das türkische Volk habe er nichts, im Gegenteil: Er sei schon mehrmals in der Türkei gewesen und sei immer sehr herzlich empfangen worden, wenn er gesagt hat, woher er komme.
Zwei türkische Fregatten kreuzen seit zwei Wochen in der Umgebung von Kastelorizo. Athen hat dafür einige Soldaten auf das eigentlich entmilitarisierte Eiland geschickt. Wie viele genau, weiß niemand, es gibt nur einige Handyvideos, die zeigen, wie Soldaten eine zivile Fähre in Rhodos besteigen, die anschließend nach Kastelorizo ablegt. Der Griechenlandkorrespondent der halbstaatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu Haber Ajansi, Tevfik Durul, wollte es genauer wissen. Als er von Athen kommend mit dem Schiff von Rhodos nach Kastelorizo fuhr, veröffentlichte eine rechte griechische Webseite seinen Pass, den offenbar die Polizei weitergegeben hatte. Schnell war die Rede von einem türkischen Spion. Das Ergebnis: Durul konnte auf Kastelorizo keinen Schritt ohne Begleitung tun und niemand redete mit ihm.
Nurettin Kaya, Tauchlehrer
Seitdem versucht die nationalistische türkische Presse es mit dem Schlauchboot. Reporter von A-Haber, einem Propagandasender für Präsident Recep Tayyip Erdoğan, filmten Kastelorizo vom Boot aus und behaupteten anschließend, die Soldaten würden bereits Schützengräben ausheben.
Der Tauchlehrer Nurettin Kaya, der, wie er sagt, mit Nationalismus nichts zu tun haben will, ist der Meinung, dass es sich Griechenland selbst zuzuschreiben hat, wenn es zum Krieg kommen sollte. „Wenn die griechische Regierung so dumm ist, sich darauf einzulassen, wird die türkische Armee sicher keinen Rückzieher machen“, glaubt er. „Man sollte sich hinsetzen und miteinander reden“, ist seine Meinung, „aber die griechische Regierung läuft ja vom Verhandlungstisch davon.“
Diese Auffassung vertritt auch der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu. Er beklagt, dass Griechenland die Vermittlungsbemühungen Deutschlands und der Nato unterlaufe und sich einem Dialog verweigere. Letztes Beispiel dafür seien technische Gespräche auf Militärebene, die Nato-Generalsekretär Stoltenberg vermittelt hatte, um die Gefahr einer militärischen Eskalation zwischen den beiden Nato-Partnern zu verringern. Kaum hatte Stoltenberg bekannt gegeben, dass diese stattfinden würden, machte die griechische Regierung einen Rückzieher.
Eine leichte Entspannung schien am vergangenen Sonntag einzutreten, als das türkische Forschungsschiff „Oruc Reis“ in Antalya einlief. „Einen „Schritt in die richtige Richtung“ nannte das der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis. Allerdings erklärte die Türkei am Montag, von einem „Rückzug“ könne keine Rede sein. Das Schiff befinde sich lediglich wegen Wartungsarbeiten im Hafen von Antalya.
Statt auf Verhandlungen setzen Athen und die griechisch-zypriotische Regierung in Nikosia auf Sanktionen. Beide verlangen, dass die EU bei ihrem nächsten Gipfeltreffen am 24. September möglichst deutliche Strafmaßnahmen gegen die Türkei verhängt. Zypern blockiert deshalb EU-Sanktionen gegen den Belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko.
Griechen fühlen sich überfahren
Meinungsumfragen der letzten Tage zufolge stehen die meisten Griechinnen und Griechen hinter der Politik ihrer Regierung. Etwa 60 Prozent der Griechen wünschen sich eine diplomatische Lösung des Streits. Diejenigen, die eine härtere Haltung fordern, auch wenn dies zu einer militärischen Auseinandersetzung führen könnte, kommen aber auf immerhin 38 Prozent.
Ein Dialog mit der Türkei? “Nein, danke“, sagt der 75-jährige Charalambos Mouratidis. Der Athener Rentner sagt, er habe die Nase gestrichen voll. Die türkischen Drohungen gegenüber Griechenland müssten endlich aufhören, sagt er. “Wir haben keine Forderungen gegenüber der Türkei. Die Türkei ist diejenige, die ständig Forderungen stellt: Was sollen wir denn mit Erdoğan unter diesen Bedingungen am Verhandlungstisch diskutieren? Was er uns Griechen wegnehmen soll?“
In der Tat hat Ankara eine ganze Reihe von Forderungen gestellt: Der Streit um die Ausbeutung von Meereszonen in der Ägäis und dem östlichen Mittelmeer ist nur eine davon. Die Türkei stellt die Souveränität griechischer Inseln infrage, spricht von „grauen Zonen“ und fordert die Entmilitarisierung der Inseln, die gegenüber der türkischen Küste liegen. Griechenland hingegen erkennt nur einen Streitpunkt mit der Türkei an, den der Festlegung der Meereszonen.
Um die Auseinandersetzung vor dem Internationalen Gerichtshof von Den Haag zu lösen, müssten beide Staaten zunächst einmal die genaue Fragestellung erarbeiten. Denn die Türkei erkennt die Zuständigkeit des Gerichtshofs nicht per se an. “Das setzt voraus, dass es gute diplomatische Beziehungen zwischen den involvierten Parteien gibt, dass sich beide Seiten an den Verhandlungstisch setzen und die konkreten Fragen, die das Gericht beantworten soll, ausarbeiten“, sagt die Juristin und Leiterin des Instituts für Internationales Recht an der Universität Athen, Fotini Pazartzi. Gerade da liege das Problem: Wie solle das geschehen, wenn das Klima so schlecht ist wie im Moment und die Türkei Griechenland verbal und militärisch drohe, fragt sich Pazartzi.
Einerseits schließt Premierminister Kiriakos Mitsotakis Verhandlungen mit der Türkei nicht aus. Andererseits hat er am vergangenen Samstag die Aufrüstung der Streitkräfte angekündigt: 18 französische Kampfjets vom Typ Rafael und 4 neue Fregatten sollen die Truppe verstärken. Zudem will Mitsotakis in der nächsten fünf Jahren Armee und Marine um 15.000 Berufssoldatinnen und -soldaten verstärken.
Kanzlerin Angela Merkel als derzeitige EU-Ratspräsidentin versucht, beide Seiten an den Verhandlungstisch zu bekommen. Doch der französische Präsident Emmanuel Macron unterläuft diese Bemühungen, indem er die griechische Regierung militärisch unterstützt und versucht, die übrigen EU-Südländer für einen möglichst harten Kurs gegen die Türkei zu gewinnen.
In der Türkei hat Erdoğan leichtes Spiel
Innenpolitisch hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan deshalb leichtes Spiel, wenn er Europa als parteiisch brandmarkt und darauf pocht, dass die Türkei „die Macht hat, um die unmoralischen Seekarten zu zerreißen“ und dafür zu sorgen, dass „unser Land gerecht an dem Reichtum unter dem Meeresboden“ beteiligt wird. Die Opposition kann dagegen erst einmal wenig tun, außer zu beklagen, dass der Präsident es geschafft habe, sich praktisch alle Nachbarn zum Feind zu machen und die Türkei international zu isolieren. „Lange kann die türkische Wirtschaft, die bereits in der Krise ist, diese nationalistische und militante Politik Erdoğans nicht mehr ertragen“, schreibt der bekannte liberale Publizist Hasan Cemal. Doch wird das Erdoğan stoppen?
Die harte Haltung der Regierung Mitsotakis erschwert es auch der Zivilgesellschaft, an frühere Friedensinitiativen zwischen Griechen und Türken anzuknüpfen. Es gibt keine Aufrufe kritischer Intellektueller. Ein Friedenskonzert, wie es die beiden berühmten Barden Mikis Theodorakis und Zülfü Livaneli vor über 20 Jahren nach dem Konflikt um die Felseninsel Imia in der Ägäis in Szene gesetzt hatten, ist nicht in Sicht.
Lediglich einzelne Kolumnisten erörtern mögliche Wege aus der Krise. Barçin Yinanç, die sich seit Langem für eine türkisch-griechische Zusammenarbeit engagiert, schreibt, EU und Nato sollten doch versuchen, zunächst einmal, wie im UN-Seerechtsabkommen vorgesehen, ein Moratorium durchzusetzen, währenddessen sich beide Seiten verpflichten, keine Schritte zur Ausbeutung der Bodenschätze in den umstrittenen Seegebieten zu unternehmen.
Für Kemal, der vor 40 Jahren aus der Metropole Istanbul nach Kas gekommen ist und dort die Mavi-Bar eröffnete, an dem Platz am Hafen, wo sich damals türkische, griechische und nordeuropäische Aussteiger die Zeit vertrieben, ist das alles eine Katastrophe. Der heute gut 60-Jährige steht immer noch hinter der Theke und erinnert sich wehmütig daran, „als hier in Kas alle friedlich versammelt waren“. Er ist wütend auf die Politiker beider Seiten, die das „kaputtgemacht“ hätten. Sein Wunsch ist es, dass „wir bald wieder nach Kastelorizo fahren und unsere griechischen Freunde zu uns kommen können“.
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