DIE INSEL DER KATASTROPHEN

■ Kastellorizo: Wo Griechenland zu Ende ist und Europa beginnt

Kastellorizo: Wo Griechenland zu Ende ist und Europa beginnt

VONKLAUSHILLENBRAND

Die breite Freitreppe aus Stein führt vom Hafenkai in die Oberstadt. Nachts ist sie gut beleuchtet, damit niemand auf den Stufen ausrutscht. Auf dem steilen Weg erkennt man linker Hand die Ruinen der byzantinischen Festung. Rechts breitet sich der Ort aus: Zwei- bis dreigeschossige Stadthäuser gruppieren sich um das große, rechteckige Hafenbecken, in dem auch die größeren Schiffe Platz fänden.

Doch tagelang kommt kein Schiff. Der Kai ist bis auf ein paar Fischerboote und einige Urlauber-Yachten leer. Die beleuchtete Freitreppe führt ins Nichts. Oben angekommen, stehen bis auf die viel zu große Schule, den Kindergarten und die Kathedrale nur Ruinen. Unten am Hafen verfallen in den engen Gassen die stolzen Handelshäuser. Manche Fassaden sind in sich zusammengebrochen und lassen den Blick in die früheren Wohnräume frei. An den verschlossenen Eingangstüren sind die Namen der Besitzer aufgemalt, die schon seit Jahrzehnten diese Insel und diesen Erdteil verlassen haben.

Kastellorizo, so der Name der Insel, hat nach den jüngsten Zählungen noch 223 Einwohner. Vielleicht sind es inzwischen auch wieder ein paar mehr oder weniger. Doch es werden nie mehr 10.000 Menschen werden, die noch um die Jahrhundertwende die Insel bevölkerten. Denn Kastellorizo hat ausgedient: als Handelsplatz, als Seefahrer-Stützpunkt. „Klein-Paris“ wurde es früher einmal genannt, erinnern sich alte Kastellorizaner wehmütig. Heute ist das nur noch der Name einer Kneipe am leeren Hafenbecken.

Wer die Insel auf Mittelmeerkarten finden will, kann lange suchen. Selbst auf den griechischen Landkarten ist für das winzige Kastellorizo kein Raum mehr. Es liegt zu weit weg. Nur in einem Kasten als Extra- Ausschnitt findet das winzige Eiland noch ein bescheidenes Plätzchen.

Kastellorizo ist nur vier Kilometer lang und drei Kilometer breit. Und doch ist der fast kahle Felsbrocken Meghisto „die Größte“, wie der zweite, weniger gebräuchliche Name der Insel lautet. Rund um die kleine Insel liegen insgesamt 27 kleine Inselchen und Klippen verstreut. Kastellorizo ist für die Griechen wichtig: Nur zwei Kilometer vor der türkischen Küste gelegen, verlängert es deren Hoheitsrechte auf See um rund 130 Kilometer östlich von Rhodos. Oben, über dem Turm der Burg am Hafeneingang, weht ein riesiges Andreaskreuz im Wind: Hier beginnt Griechenland. Zweimal in der Woche kommt eine Fähre und bringt aus dem fernen Rhodos mit, was die 223 Insulaner und ihre Gäste so brauchen.

Wechselreiche Geschichte des Niedergangs

Die meisten Geschichten auf Kastellorizo beginnen mit einem Seufzer und der Erklärung, wie es früher einmal war. Die wenigen verbliebenen Bewohner erinnern sich beständig an die Zeiten vor der letzten Kastastrophe. Manche Alten wissen noch von der Zeit vor der vorletzten Kastastrophe zu berichten. Und die Ältesten haben in ihrem Gedächtnis die Bilder Kastellorizos vor der vorvorletzten Katastrophe gespeichert. Damals besaßen die reichen Reeder Kastellorizos mehrere hundert Segelschiffe. An der kleinasiatischen Küste standen die Traumvillen, dort lagen die umfangreichen Ländereien. Kastellorizo war um die Jahrhundertwende wichtiger Transitpunkt für die Segler auf dem Weg von Piräus, Smyrna (heute Izmir) und Istanbul nach Syrien, Zypern, Palästina und Ägypten. Die meist griechischen Bewohner hatten sich dank umfangreicher Privilegien des Osmanischen Reiches eine große Stadt auf der Insel erbaut. Der Hafen bot den vorbeifahrenden Schiffen Schutz bei Stürmen. Das Leben war kosmopolitisch: mit Seefahrern aus dem ganzen Mittelmeerraum. Michael Hondros, der ehemalige Bürgermeister von Kastellorizo, blättert in einem Bildband und zeigt auf die Fotos, die Dutzende von Seglern im Hafenbecken zeigen, weist auf die großzügigen Schulbauten und die damals neu errichteten Kathedralen. Heute ist die Turmuhr der Georgskirche schon seit Jahren auf 7 Uhr 50 stehengeblieben.

Die erste Katastrophe kam leise und langsam. Kein Erdbeben, keine Feuersbrunst und kein Überfall feindlicher Piraten. Kurz nach der Jahrhundertwende kamen die ersten Dampfschiffe in Gebrauch. Die Insulaner störten sich nicht an der modernen Technik, sie vertrauten ihren alten Seglern. Doch die Dampfschiffe hatten einen Zwischenaufenthalt auf Kastellorizo nicht mehr nötig. Der Transitverkehr verschwand. Die eigenen Schiffe konnten gegen die modernen Dampfer nicht mehr konkurrieren. Die Reeder verloren ihr Geld. „Die Leute waren zu dumm“, schimpfen die Nachkommen heute. Der Reichtum ging langsam verloren. Die ersten Bewohner begannen auszuwandern. Viele gingen nach Australien. Doch Kastellorizo war immer noch eine schöne Stadt, nicht zu vergleichen mit den armen Inseln des griechischen Dodekanes, zu dem sie heute gehört.

Mag der Niedergang der Seefahrt noch von den zu wenig flexiblen Einwohnern mitverschuldet gewesen sein, die folgenden Katastrophen waren es nicht mehr. Sie brachen auf die Insel herein. Sie vernichteten sie. Das winzige Eiland geriet in den Strudel der Weltpolitik. Deutsche, Briten, Italiener, Franzosen, Griechen, Türken und Amerikaner entwickelten ein merkwürdiges Interesse. Militärstrategisch war ihr Handeln logisch. Für Kastellorizo war es ein Desaster.

Im Ersten Weltkrieg besetzten die Franzosen Kastellorizo. Ein deutsches Kriegsschiff schoß daraufhin seine Granaten in den Hafenort, der Schaden blieb gering. Die Hoffnung der griechischen Bewohner, daß die Insel an das „Mutterland“ angeschlossen werden würde, erfüllte sich nicht. Im Jahre 1920 übernahm Italien Kastellorizo und besetzte es ebenso wie den restlichen Dodekanes.

Die Inseln sollten „italienisiert“ werden. Mit dem Lausanner Vertrag zwischen Griechenland und der Türkei im Jahre 1923 kam die euphemistisch als Bevölkerungsaustausch beschriebene Massenvertreibung: Hunderttausende Griechen mußten Kleinasien verlassen. Mit Flüchtlingen überfüllt, erhöhte sich die Bevölkerungszahl Kastellorizos auf zeitweise 14.000 Menschen. Die 200 Moslems mußten umgekehrt die Insel verlassen. Heute steht ihre kleine Moschee neben der Zollstation leer.

Doch es gab noch mondänes Leben auf Kastellorizo. Auf alten Bildern, die der Bürgermeister auskramt, sind Wasserflugzeuge im Hafen zu erkennen. Kastellorizo lag auf der Flugroute Marseille-Rom-Beirut, die mit Linienmaschinen bedient wurde. Noch besaßen die Reeder der Insel rund 200 Schiffe.

Im vernichtenden Strudel der Weltpolitik

1926 erschütterte ein Erdbeben die Insel. Rund 500 der 4.000 Häuser wurden zerstört. Immer mehr Menschen verließen Kastellorizo.

Zwischen Schule und Burg haben heute niedrige Büsche die Ruinen der Häuser überwuchert. An manchen Stellen blinken Keramikscherben in der Sonne. Die Gebäude sind bis auf die Grundmauern zerstört. Es war nicht das Erdbeben, das den ganzen Stadtteil in Schutt und Asche legte. Es waren die Deutschen. „Am 17.Oktober 1943 kamen die Stukas“, erzählt Michael Hondros und blättert in alten Fotos. Das Bild zeigt eine scharze Qualmwolke über der Stadt. Der deutsche Angriff aus Rhodos galt den Briten, die die Insel zuvor den Italienern abgenommen hatten. „Nach dem Bombardement befahl der englische Militärbefehlshaber die Evakuierung aller Zivilisten. Die Leute glaubten, es ginge nur für ein paar Wochen aufs Festland. Doch es wurden zwei Jahre.“ Die Bevölkerung Kastellorizos — damals waren es noch etwa 1.500 Personen — wurde nach Zypern evakuiert, von dort nach Gaza. Manche verschlug es weiter nach Ägypten.

Was während dieser Zeit auf ihrer Insel geschah, ist umstritten. Einige Alte behaupten, die aus allen Kolonien zusammengewürfelten britischen Truppen hätten die Häuser geplündert und ihren Raub durch Brandstiftung zu vertuschen versucht. Die andere Version lautet, ein indischer Soldat habe in einem der Häuser Tee gekocht, dabei habe das Gebäude Feuer gefangen, und schließlich habe sich der Brand weiter ausgebreitet. Es gibt keine Zeugen. Das Feuer gab der Stadt den Rest.

Auf dem winzigen Flughafen von Kastellorizo entsteigen häufig weitgereiste Passagiere dem Flugzeug. Es sind Kassies, emigrierte Kastellorizaner, auf „Heimaturlaub“. Sie fliegen um den halben Erdball von Australien ein, um „zu Hause“ vor den Ruinen ihrer Elternhäuser zu stehen. Ihr Griechisch ist gebrochen. Die Einheimischen sind nicht immer gut auf sie zu sprechen. „Sie behalten ihre alten Häuser, aber kümmern sich nicht darum“, meint Kostas. „Sie weigern sich, sie abreißen zu lassen. In den Ruinen gedeihen die Ratten.“ Doch die Kassies sind keine Kastellorizaner mehr, sondern Touristen. Sie werden freundlich empfangen.

Nach dem Krieg bot Großbritannien den evakuierten Insulanern an, statt auf ihre zerstörte Insel nach Australien zu gehen. 1.000 nahmen das Angebot an, nur 500 kehrten zurück. Um die Katastrophen-Geschichte komplett zu machen, brach auf einem der drei Schiffe, der „Empire Patrol“, die die Rückkehrer transportierte, Feuer aus. Mehr als 30 Menschen wurden getötet.

1947 wird Kastellorizo ebenso wie der Dodekanes griechisch. Ein Traum geht in Erfüllung. Doch für viele kommt er zu spät. Die Auswanderung hält an. Und die Weltpolitik hält Kastellorizo weiter fest im Griff.

Kas, eine türkische Kleinstadt, liegt nur sechs Kilometer von der Insel entfernt. Bei günstigem Wind kann man den Muezzin hören, wenn er fünfmal am Tag zum Gebet ruft. Doch der Verkehr ist unterbrochen. Die Türkei ist der „Erbfeind“ Griechenlands. Nur von der Türkei aus werden ausländische Touristen für ein paar Stunden auf die Insel geschippert. Die Kastellorizaner dürfen nicht. Doch sie reisen trotzdem. „Ich war schon bestimmt zwanzigmal drüben“, erzählt ein Fischer und bietet gleich eine Mitfahrt für morgen früh an. Der Schmuggel blüht. Pullover, Radios, alles ist „drüben“ billiger. Der griechische Zoll schaut weg. Die Gefahr, erwischt zu werden, ist gering. „5.000 Drachmen, und Sie sind dabei!“

Zwischen alten und neuen Ruinen

1964 sollte Kastellorizo türkisch werden. Dean Acheson, ehemaliger US-Außenminister, hatte die Idee, den Zypern-Konflikt zwischen Griechen und Türken dadurch zu befrieden, daß die Insel zwischen Griechenland und der Türkei geteilt werden sollte. Als Kompensation versprach der Geheimplan der Regierung in Ankara zusätzlich Kastellorizo. Doch daraus wurde nichts. Die zypriotische Regierung lehnte ab. Die Kastellorizaner, die ohnehin niemand gefragt hatte, durften bleiben.

Zum letzten Mal erhielt Kastellorizo im letzten Jahr Besuch von der Weltpolitik. Da landeten, kurz nach Beginn des Golfkrieges, amerikanische Hubschrauber. Kurz danach kam das Gerücht auf, der kleine Flughafen, auf dem nur die Propellermaschinen aus Rhodos landen können, solle ausgebaut werden.

An der Kaimauer überbieten sich die Besitzer der beiden Restaurants in Hilfsleistungen für die einlaufenden Yachten, damit diese bei ihnen anlegen. Die letzten Jahre haben erstmals Touristen gebracht, nicht viele, weil es keinen Strand gibt, aber immerhin genügend, um dafür zu sorgen, daß die Insel nicht vollständig ausstirbt. Jetzt gibt es sogar ein paar Autos auf Kastellorizo, allerdings kaum Straßen. „Ich mag sie nicht“, meint Michael Hondros, „zuviel Lärm.“ Die Regierung in Athen tut viel, um die Bewohner zum Bleiben zu bewegen. Da ist der Flughafen. Die Schiffahrtslinie wird hoch subventioniert. Doch 40 neue Häuser, die gebaut werden sollen, blieben im Rohbau stehen. Die sozialistische PASOK wollte die Häuser fertigstellen, die konservative „Nea Demokratia“ stellte die Bauarbeiten wieder ein, als sie an die Regierung kam. Zwischen den alten Ruinen stehen jetzt neue.

Zweimal wöchentlich bedient von Rhodos aus eine Fähre die Insel Kastellorizo. Die Überfahrt dauert rund fünf Stunden, die Fahrpläne wechseln häufig. Daneben verkehrt zwei- bis viermal wöchentlich ein Kleinflugzeug zwischen Rhodos und der Insel. Bei stürmischem Wetter können Fähre und Flug ersatzlos gestrichen werden. Auf der Insel gibt es nur rund 150 Fremdenbetten. Im Hochsommer sind sie meist mit Kassies aus Australien voll belegt. Übernachten im Freien sehen die Insulaner nicht gern. Für Familien mit Kindern ist Kastellorizo wenig geeignet: Es gibt keinen Strand.