Tuberkulose muss nicht tödlich sein: Neue Medikamente
In Westeuropa ist die Infektionskrankheit Tuberkulose selten geworden, doch in anderen Teilen der Welt wird sie zu einem immer größeren Problem.
Vor dem Eingang hängt ein Poster mit einem freundlichen älteren Mann, der eine auffällige Brille trägt und eine Botschaft hat: Mit einer geregelten Behandlung ist Tuberkulose (TB) heilbar. Zu sehen ist Amitabh Bachchan, einer der bestbezahlten Schauspieler Indiens, doch vielmehr teilt er ein Schicksal mit vielen anderen Inder:innen: Er wurde mit der Infektionskrankheit, die sich über feine Tröpfchen in der Luft verbreiten, diagnostiziert. Jedes Jahr erkranken weltweit etwa 10 Millionen Menschen an einer Tuberkulose. Für 1,5 Millionen verläuft sie tödlich.
Auf Indien entfallen etwa ein Viertel aller TB-Neuinfektionen. Latente Tuberkulose (LTBI) ist dabei in Indien weit verbreitet. Millionen von Menschen tragen auf dem Subkontinent den Haupterreger, Mycobacterium tuberculosis, in sich. Aktiv wird die Tuberkulose aber nicht bei jedem und auch nicht sofort. Bis zu einem Ausbruch können Jahre vergehen. Faktoren wie Mangelernährung, Luftverschmutzung oder Co-Infektionen wie HIV/AIDS, Diabetes oder Sars-CoV-2 haben ebenfalls ihren Einfluss auf den Krankheitsverlauf.
Die Millionenstadt Mumbai im Westen Indien ist vieles, auch Welt-Tuberkulose-Hauptstadt. Zwar sind die Infektionszahlen hoch, was auch an der hohen Bevölkerungsdichte liegt. Davon betroffen sind unter anderem Migrant:innen, die in dicht besiedelten Gegenden leben, und zwischen Land und Stadt pendeln. Doch seit 2016 haben sich die Diagnose und Versorgung immens verbessert. Die Zusammenarbeit zwischen Stadt, privaten Akteuren und NGOs stärkt den Kampf gegen Tuberkulose, die multiresistente Formen zum Vorschein gebracht hat.
Der Lungenmediziner Vikas Oswal behandelt seit Jahren TB-Patienten. Freitags ist er in einem der hellen Räume der städtischen Shatabdi-Ambulanz anzutreffen. Hier wird jeder kostenfrei versorgt. Bei einer aktiven Tuberkulose ist oft die Lunge betroffen. Das Begutachten von Thorax-Röntgenbildern gehört zur Routine. Tuberkulose kann aber auch Organe wie das zentrale Nervensystem oder die Lymphknoten befallen. Bei zwei noch sehr jungen Patient:innen, dessen Onkel an einer medikamentenresistenten Tuberkulose starb, tastet Oswal deshalb den Hals ab.
Früher Resistenzen wenig beachtet
Seit zwei Jahren steigen zudem die Fälle unter Frauen, besonders die mehrere Kindern bekommen haben. Tuberkulose bricht dann aus, wenn das Immunsystem geschwächt ist. Frauen sind traditionell, die Versorgenden, die sich um Kranke kümmern und wenig das Haus verlassen. Dass TB vor allem ältere Menschen betrifft, ist eher ein Problem in Westeuropa. Oswal begegnet oft schweren Verläufen, denn die Shatabdi-Ambulanz ist auf medikamentenresistente Tuberkulose, die sogenannte MDR spezialisiert. Es war kein leichter Weg, doch mit viel Überzeugungsarbeit konnte er mit seiner städtischen Kollegin Shubhangi Marker die Ambulanz aufbauen. Denn zunächst war das Ausmaß an Antibiotika-Resistenzen wenig beachtet.
„Ich habe viel in Slums gearbeitet“, sagt der 38-Jährige. Anfangs hatte Mumbai nur ein spezialisiertes Krankenhaus im Süden der Stadt. Patienten mussten nicht nur weit reisen, sondern auch lange auf Termine warten. Spezielle Tests wurden kaum durchgeführt, da diese bei privaten Einrichtungen manchmal einen halben oder gar einen ganzen Monatslohn für einfache Arbeiter:innen kosten. In Shatabdi sind sie kostenlos.
Das verzögert die Diagnose unnötig, sagt der Arzt. „Medikamente wurden teilweise auf Versuchsgrundlage verschrieben“, Familien verschuldeten sich, da sich nicht in öffentliche Zentren gingen. Doch vieles änderte sich. Ein Stück dazu hat die Shatabdi-Ambulanz und ihr Ruf beigetragen, die seit 2016 im Vollbetrieb ist und zum Vorzeigemodell wurde. Der niedergelassene Arzt ist Teil der öffentlich-privaten-Partnerschaft. Ärzte ohne Grenzen (MSF) unterstützen das Projekt.
Die Zahl der jährlichen Diagnosen in Mumbai hat sich von 2017 (mit 34.021) auf 2019 (60.428) fast verdoppelt. Allerdings verbreiten sich multiresistente Stämme (MDR-TB) bereits innerhalb von Familien, Wohnblöcken und Vierteln. Es kamen unbehandelte Personen in die Ambulanz, bei denen sich bereits Resistenzen gegen Antibiotika entwickelt haben, schildert Oswal.
Es muss zu Fehldiagnosen und unnötigen Verschreibungen von Antibiotika gekommen sein, so erklärt Oswal, wie sich Resistenzen überhaupt erst entwickeln konnten. Ausgelöst werden sie zudem durch zu kurze oder abgebrochene Therapien, immer dann, wenn nicht alle Bakterien abgetötet werden. Das wurde durch Corona-Lockdowns intensiviert und traf besonders Wanderarbeiter:innen, die in Eile – ohne Medikamentenreserve – die Stadt verließen.
Nach einem Einbruch in der Diagnose sind die Fälle fast wieder auf ein Niveau wie vor der Pandemie gestiegen. Das ist ein gutes Zeichen, denn nur wer diagnostiziert und richtig behandelt wird, kann dazu beitragen, Tuberkulose zu eliminieren. Gleichzeitig sind die MDR-Fälle, leicht gestiegen. Etwa 10 Prozent aller Fälle in der Metropole sind entweder „multiresistent“ oder „extrem resistent“. Für ihre Behandlung braucht es Zweitlinienmedikamente, die teils hohe Nebenwirkungen haben. Das gilt vor allem für ältere Kombinationen, die injizierbar sind. Zu den neuen und besser verträglichen Präparaten in Tablettenform gehört Bedaquilin, das eine hohe Heilungsrate von MDR-Patient:innen garantiert, das bestätigt die städtische TB-Beauftrage Pranita Tipre.
Medikamente sind zu teuer
Nach fast einem halben Jahrzehnt gilt Bedaquilin als Durchbruch. Eine vielversprechende Kombination stellt es mit dem Antibiotikum Delamanid dar. Beide sind allerdings für Indien mit – 360 Euro für 6 Monate beziehungsweise 1.550 Euro für Delamanid teuer – im Einkauf für Indien. MSF fuhr bereits eine Kampagne, um die Pharmahersteller dazu zu bewegen, die Kosten zu reduzieren. Bisher gab es eine Preisminderung bei Johnson & Johnson für Bedaquilin. Die sei aber nicht ausreichen, so die Hilfsorganisation.
Dass TB weiterhin eine globale Herausforderung ist, daran erinnerte kürzlich der US-Epidemiologe Anthony Fauci. Der Krieg in der Ukraine könne zu einem „verheerenden“ Tuberkuloseproblem führen, warnte er. Denn Flucht und Vertreibung machen Menschen anfällig.
Der Würzburger Infektiologe Professor August Stich plädiert für ein solidarisches Handeln: „MDR-TB ist ein globales Problem, das wir auch nur durch einen globalen Einsatz eindämmen können. Die Zunahme antimikrobieller Resistenzen in anderen Kontinenten darf uns in Deutschland nicht egal sein.“ Jedem Menschen stehe das Recht auf eine medizinische Behandlung zu.
Anders als bei einigen Corona-Arzneien wie dem Impfstoff von Moderna gibt es bisher keine Freigabe für die Herstellung der Antibiotika Bedaquilin (Johnson & Johnson) und Delamanid (Otsuka/Mylan). Es sind entwicklungsintensive Therapeutika mit seltener Anwendung. In Europa gelten sie als „Orphan-Arzneien“. Damit steht den Herstellern ein zehnjähriges Exklusivrecht ab Marktzulassung zu – und eventuell darüber hinaus.
Mediziner wie Oswal hoffen dagegen auf den neuen Wirkstoff Pretomanid, dem dritten nach knapp 50 Jahren. Zum Ende des Jahres begann unter anderem in Shatabdi eine neue klinische Studie, die das Medikament in Kombination mit Bedaquilin und Linezolid kurz: BPaL testet. Bisher sehen die Ergebnisse vielversprechend aus, sagt Oswal.
Der Vorteil von Pretomanid liegt unter anderem daran, dass das Medikament nicht von einem Pharmariesen, sondern im Auftrag der gemeinnützigen Organisation TB-Alliance entwickelt wurde. Doch für handfeste Daten aus Indien wird es noch ein bisschen dauern.
Die Recherche wurde vom Security Health Fund des European Journalism Center und der Bill & Melinda Gates-Stiftung unterstützt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten