Truppenabzug aus Afghanistan: „Hier wird das Chaos ausbrechen“
Für manche ist der angekündigte Abzug der USA und Nato ein Déjà-vu. In Kabul blicken die Menschen einer ungewissen Zukunft entgegen.
Schon in der Vergangenheit wurden sie hier auch zum Ziel von Anschlägen. Vor rund einem Jahr griffen IS-Terroristen eine Geburtsklinik an und töteten mindestens 24 Menschen. 2016 wurden bei einem Angriff auf eine Bildungseinrichtung über dreißig Menschen getötet.
Diese und weitere Massaker haben sich hier im Gedächtnis der Menschen eingebrannt. Dennoch wurden für das heutige Sportevent kaum Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Nur jeweils ein Polizei- und Armeejeep sind präsent. Die dazugehörigen Soldaten wirken gelangweilt und desinteressiert. „Sei mal froh, dass wir überhaupt da sind“, sagt Tamim, während er mit seinem Gewehr spielt. Seinen Nachnamen will er nicht nennen. Er behauptet, er und seine Kollegen seien gar nicht für Daschte Barchi und die Veranstaltung zuständig. Man sei eben da, aber echte Sicherheit könne man nicht garantieren. „Tja, das ist der Zustand unserer Armee“, sagt Tamin.
Diese Armee wird bald vollständig auf sich allein gestellt sein. Vor wenigen Tagen verkündete US-Präsident Joe Biden, seine laut New York Times 3.500 verbliebenen Soldaten, das Pentagon spricht offiziell nur von 2.500, bis zum 11. September abziehen zu wollen. Auch die anderen Nato-Staaten bereiten ihren Rückzug vor. Berichten zufolge soll die Bundeswehr bereits im August Afghanistan verlassen. Zwei Jahrzehnte nach Beginn des „War on Terror“ wollen die Amerikaner ihren „längsten Krieg“ beenden.
Exodus der letzten Sikhs
So unterschiedlich die afghanischen Reaktionen auf dem Einmarsch Ende 2001 waren, so verschieden sind sie auch heute. „Wir können uns nicht ewig auf die US-Soldaten verlassen“, meint der Soldat Tamim. Doch dann wird er ernster. Sobald sein Sold wegfällt, würde er sich irgendeiner Miliz anschließen. „Ich bin für den Krieg gewappnet“, sagt er.
Andere planen wegen der schlechten Sicherheitslage, die schon seit Längerem besteht, ihre Flucht. „Wir werden wohl bald gehen“, sagt Hakim Singh, ein Sikh, der sein Geschäft im Stadtteil Karte Parwan führt. Der Exodus der letzten Sikhs Afghanistans hängt nicht direkt mit dem Truppenabzug zusammen, sondern mit den zunehmenden Angriffen auf ihre Gemeinschaft.
Im März 2020 wurde ein Sikh-Tempel in Kabul von der afghanischen IS-Zelle angegriffen. 25 Menschen wurden dabei getötet. Auch in diesem Fall hatte niemand für den Schutz der Opfer garantieren können. Die darauffolgenden PR-Stunts der Kabuler Regierung waren mehr Schein als Sein. Singh und seine Familie wollen nach Kanada oder nach Indien. Dort warten schon Verwandte auf sie.
Der Abzug der US-Truppen erscheint vielen Afghanen wie ein Déjà-vu. 1989 verließen die letzten sowjetischen Truppen nach ihrer zehnjährigen Besatzung Afghanistan. Das letzte kommunistische Regime, angeführt von Mohammed Nadschibullah Ahmadzai, konnte sich drei weitere Jahre dank finanzieller und logistischer Unterstützung aus Moskau halten. Nachdem der Geldhahn abgedreht wurde, nahmen die Mudschaheddin-Rebellen Kabul ein und ein neuer Spuk ging los.
Angst der Frauen vor Taliban-Regime
Der blutige Bürgerkrieg kostete Tausende von Afghanen das Leben. Dann kamen die Taliban an die Macht. „Es wird wie damals. Hier wird das Chaos ausbrechen – und am Ende kommen sie wieder mit ihren schwarzen Turbanen und bringen Ordnung rein“, glaubt Mohammed Saleh, ein Taxifahrer. Er sei kein Talibansympathisant, doch wisse er, dass viele Kabuler nach „brutaler Sicherheit“ lechzen würden. „Hier wird man für ein Handy und etwas Kleingeld getötet. Die Regierung hat die Kontrolle verloren, da muss das eben jemand anderes übernehmen“, sagt er zynisch.
„In all den Jahren konnten die US-Truppen in Afghanistan nichts ausrichten. Ich denke nicht, dass ihr Abzug eine große Veränderung bringen wird“, meint Arzo Rahimi, eine Studentin aus Kabul. Sie wünscht sich keine Rückkehr der Taliban in Kabul und hält derartige Szenarien für übertrieben. Man müsse sich auch auf wirtschaftliche Hilfe und regionale Zusammenarbeit konzentrieren. „Die Amerikaner haben hier ein Chaos hinterlassen und nun wollen sie schnell weg“, resümiert sie.
Viele Eindrücke aus der afghanischen Hauptstadt unterscheiden sich allerdings gravierend vom Alltag in anderen Landesteilen. Vor allem in den ländlichen Regionen haben die Taliban schon seit Langem wieder das Sagen. Auch in manchen Kabuler Vororten sind sie bereits präsent.
Umso besorgter zeigen sich viele Frauen, die ein urbanes Leben führen, studieren oder berufstätig sind. „Der Abzug der ausländischen Truppen ist ein Bärendienst für die Taliban. Sie haben nur darauf gewartet. Ich fürchte mich vor ihrer Rückkehr. Sie betrachten Frauen nicht als Menschen“, sagt Marwa Haschemi, eine Ärztin aus Kabul.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Misogynes Brauchtum Klaasohm
Frauenschlagen auf Borkum soll enden
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz