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Beladen mit existenzieller Trauer: Irmgard Keuns Großstadtroman „Das kunstseidene Mädchen“ wird in Bremen mit Menschen und Puppen inszeniert

Anna Stieblich als Irmgard Keun (links) Foto: Aleksandra Weber

Von Jens Fischer

Auf ins Babylon Berlin. Wo sich Gratwanderer am Abgrund des Nationalsozialismus den Vergnügungen glitzernder Tanzpaläste und drogenseliger Bars hingeben, glühende Intellektualität in Literaturcafés feiern oder im Glamour der Mode und des Kinos sonnen. So möchte auch „Das kunstseidenen Mädchen“ von Irmgard Keun ihre Lebenslust ungehemmt von Konventionen und moralischen Korsetts in Taten umsetzen.

Für diese Abenteuer hat das „Mensch, Puppe!“-Team das intime Kellertheater-Ambiente der eigenen Spielstätte verlassen. Aufgrund der finanziellen Unterstützung durch die Arbeitnehmerkammer Bremen und des Wunsches, mit ihrer Kunst raus in die Stadt zu gehen, gastiert die Premiere des Keun-Stoffes auf einem offenen Podium im charmefreien Multifunktionssaal der Kammer. Aber wenn das Licht verlöscht, lässt der Zauber des Schau- und Puppenspiels den Ort vergessen.

Rauschhaftes Ringen um Identität

„Ich möchte gern furchtbar glücklich sein“, sagt Irmgard Keun. „Ich will ein Glanz werden“, so beschreibt das kunstseidene Mädchen Doris sein Hochhinauswollen aus piefiger Kleinbürgerlichkeit. Mit diesen Mantras stellt Regisseur Philip Stemann die Autorin der Romanfigur gegenüber, um ihre rauschhaft um Identität ringenden Konzepte selbstbestimmten Lebens zu hinterfragen.

Schauspielerin Anna Stieblich zeigt Irmgard Keun beladen mit existenzieller Trauer. Das Glück in der Welt der Lustbarkeiten scheint sie hinter sich zu haben, tanzt nur noch allein mit einer Schlager-LP aus den 1970er Jahren, hinter ihr ein Paravent, geschmückt mit Zeitschriftentitelseiten, Film-Stills, Plakaten aus der Nachkriegszeit. Als Nostalgie-Bote singt Max Raabe aus dem Off.

Als humorvolle Chronistin der letalen Weimarer Republik und Stimme der Frauen dieser Zeit ist Keun berühmt und erfolgreich geworden. Nach der sogenannten Machtergreifung der Nazis wurde ihre Literatur verboten. Es sagt einiges über ihren Mut, dass sie eine Schadenersatzklage einreichte wegen des Verdienstausfalls durch die Beschlagnahme ihrer Bücher – was die Gestapo erst recht gegen sie aufbrachte.

Im Nachkriegsdeutschland fand Keuns sozialer Aufstieg durch literarisches Schaffen keine Fortsetzung. Ihr In-die-Welt-Staunen versank in Alkoholismus. Sie kam in die Psychiatrie, starb verarmt. Das alles führt die Inszenierung nicht aus. Aber sie betont, dass Keun schon ihre Doris mittellos in die Obdachlosigkeit abgleiten ließ.

Weswegen das Stück auch „Irmgard Keun – Das kunstseidene Mädchen“ betitelt ist: Beide Figuren spiegeln die folgenreichen Sehnsüchte der jeweils anderen. Zwei Unbehauste, Gescheiterte, Verlorene. Zusammen sind sie eins, kuscheln daher auch gern mal miteinander.

Jeanette Luft gibt der Doris-Puppe die görenfrech sprudelnde Stimme, eine Hand und auch die baumelnden „Beene“. Im Gesicht der Figur ist die bleiche Traurigkeit von Beginn an vom Glanz puppenhafter Schönheit übertüncht. Luft ergänzt die Starrheit mit schier unzerstörbarem Optimismusstrahlen. Sie liebäugelt, lächelt, auf dass auch die Puppenaugen in müder Kessheit zu funkeln scheinen, und das von Keun beschriebene „weinende Lachen“ den großen, frechen Mund umspielt. So kann Doris in naiver Trotzigkeit gegen enttäuschte Hoffnungen anschnoddern und ironisieren, dass sie gerade nicht anders überleben könne als durch unterwürfige Affären mit reichen Männern.

Dem Machismo die Sporen geben

Als humorvolle Chronistin der letalen Weimarer Republik ist Keun berühmt und erfolgreich geworden

Diese Typen spielt Anna Stieblich mit Filmstarmaske, fummelt, torkelt und gibt dem Machismo die Sporen. Doris „heult sich eine Ostsee“ nach den Abstürzen solcher ausbeuterischen Beziehungen und propagiert sofort wieder: „Ich liebe jeden, der mir gefällt.“ Und damit sie gefällt, auffällt, eben reich und berühmt und so zum Glänzen gebracht werden kann, macht Doris sich Rollenbilder aus der Werbung und dem Film zu eigen. Sie verinnerlicht männliche Niedlichkeitsvorstellungen und Erwartungen.

Die beiden Spielerinnen finden zu einer zarten Art des Miteinanders in der Desillusionierung, verfallen dabei nur selten ins grobe Berlinern und singen sanft einige lustig-melancholische Evergreens der Zwischenkriegszeit. Resümierend kommen sie in einem Gefühl zusammen, das sie so beschreiben, wie es Marlene Dietrich 1931 besungen hat: „Wenn ich mir was wünschen dürfte, möcht‘ ich etwas glücklich sein, denn wenn ich gar zu glücklich wär‘ hätt‘ ich Heimweh nach dem Traurigsein.“

Wunscherfüllung, Schmerz und Trost in einem. Genau diese ambivalente Stimmung evozieren die beiden Spielerinnen. Keine kleine, eine feine Leistung.Jens Fischer

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