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Traurige SilvesterbilanzAn Fetische darf nicht gerührt werden

Kommentar von Susanne Memarnia

Das Böllern wird absehbar nicht verboten. Denn es ist für die Apologeten der individuellen Freiheit ein Fetisch – wie das Fahren ohne Tempolimit.

Das „Recht auf Böllerei“ gilt vielen offensichtlich als Ausdruck von individueller Freiheit Foto: Florian Boillot

D ie Bilanz ist wie üblich traurig: Fünf Tote in Deutschland, davon einer in Brandenburg. In Berlin vermeldet allein das Unfallkrankenhaus Marzahn am Neujahrstag 17 Bölleropfer mit teils schweren Verletzungen an Händen, Gesicht und Augen. Ein Mann ist erblindet, ein Polizist hätte wegen einer Böller-Attacke fast sein Bein verloren. Es gab in der Hauptstadt 825 Brände, 847 Rettungsdiensteinsätze, 220 technische Einsätze. Dazu kommen Tonnen von Müll, den die BSR entsorgen muss. Nicht bezifferbar ist die Angst vieler Menschen und der Tiere, die Luftverpestung. Der ganz normale Silvesterwahnsinn eben.

Es ist schon merkwürdig, was wir – oder die Mehrheit von uns, oder die tonangebenden Politiker – als „normal“ ansehen, zumindest als etwas, das hinzunehmen sei. Würden zum Beispiel jedes Jahr Dutzende Berliner bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen, hätten wir nach kürzester Zeit eine Diskussion über die unzulängliche Sicherheit im Luftverkehr, ratzfatz wären zig Maßnahmen ergriffen worden. Aber bei 55 Toten im Berliner Straßenverkehr, die es 2024 zu beklagen gab, zucken wir müde mit den Achseln.

Ähnlich ist es mit Silvester: Das „Recht auf Böllerei“ gilt vielen offensichtlich als Ausdruck von individueller Freiheit, die dem Recht der Allgemeinheit auf Schutz übergeordnet ist – letztere darf nur für die Kosten aufkommen. Anders ausgedrückt: Das Böllern ist, wie das Auto, ein Fetisch. Genauer gesagt: ein Fetisch der Männer, der alten und jungen, der reichen und armen, der bio-deutschen und der migrantischen. Und an Fetische darf nicht gerührt werden. Darum gibt es in Deutschland kein Tempolimit, aber ein Dienstwagenprivileg, in Berlin keine autofreie Innenstadt aber fast kostenloses Anwohnerparken.

Und darum gibt es im Mutterland der Verordnungen (noch ein Fetisch) natürlich ein Sprengstoffgesetz, das das Abbrennen von Pyrotechnik das ganze Jahr über nur eigens dafür ausgebildeten „Erlaubnis- oder Befähigungsscheininhabern“ gestattet. Aber für Silvester macht das Gesetz eine Ausnahme. Da darf jeder (Erwachsene) ran. Einmal im Jahr müssen es die Deutschen offenbar krachen lassen.

Koste es, was es wolle.

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Redakteurin taz.Berlin
Jahrgang 1969, seit 2003 bei der taz, erst in Köln, seit 2007 in Berlin. Ist im Berliner Lokalteil verantwortlich für die Themenbereiche Migration und Antirassismus.
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11 Kommentare

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  • Es gibt natürlich auch andere Fetische in Deutschland: die Ablehnung der Videoüberwachung öffentlicher Orte etwa. Oder den Datenschutz, der die sofortige Öffentlichkeitsfahndung mit den Bildern mutmaßlicher Täter verhindert. Oder, speziell in den grünwählenden Teilen Berlins: die prinzipielle Ablehnung von Polizei bzw „Repression“….

  • Sie lenken herumschwadronierend vom konkreten Thema ab ...

    • @Lichtenhofer:

      Bezog sich auf "Habnefrage", wäre sonst ohne Bezug. Sorry!

  • Menschen etwas verbieten, weil einige Unfug machen? Dann aber bitte alles verbieten: private PKW/LKW, weil diese für Verbrechen mit mtl. Hunderten Toten verwendet werden, sämtlicher Alkohol, alle Tabakwaren, weil diese jährlich für viele Tote verantwortlich sind. Alle Lebensmittel nur mit Bezugsscheinen, weil Zucker, alle Fette und alle tierischen Produkten im Ergebnis gesundheitsschädlich sind. Keinerlei Veranstaltungen (Konzerte, Biergärten, etc.) mehr im Freien, weil die Tiere gestört werden.

  • "Das Böllern wird absehbar nicht verboten. Denn es ist für die Apologeten der individuellen Freiheit ein Fetisch"



    Genau wie das Verbot ein Fetisch für die Apologeten der moralischen Richtigkeit ist.



    Könnte man vielleicht versuchen, sich irgendwie in der Mitte zu treffen? Diese ständigen Absolut-Debatten sind furchtbar ermüdend.

    • @Encantado:

      Die moralische Richtigkeit tötet aber immerhin keine Menschen und verursacht Millionenschäden…

    • @Encantado:

      Mit einer bemühten und fragwürdigen rhetorischen Konstruktion unterstellen Sie dem Artikel eine "Absolut-Debatte", die sich dort gar nicht finden läßt. Für welche Lobby sind Sie vorauseilend tätig?

      • @Lichtenhofer:

        Im Artikel stehen keine Vorschläge wie: Nur noch kleinere Böller, nur noch Leuchtraketen ohne Knalleffekte, nur noch biologisch abbaubare Produkte und Verpackungen.

        Also doch eine "Absolut-Debatte"

  • Gewalt ist immer noch wohl toleriert von der Mehrheit und von der Politik. Auch wenn sie offensichtlich überwiegend von nur einem Teil der Bevölkerung ausgeht, nämlich der Männlichen. Spaß und Freiheit



    für die einen, Feinstaubbelastung und Lärm für alle!



    Nichts anderes als Gewalt ist die hemmungslose Böllerei, nichts anderes als Gewalt, das



    sinnlose verblasen von Benzin und Energie auf den Autobahnen.

  • Wo bleiben die Blumenmeere und Gedenkorte für die Toten vom Silvesterterror? Unfassbar, dass private Böllerei angesichts dieser unverantwortlichen - männlichen - Gewalttätigkeit möglich bleibt.

    • @Oldandproud:

      Nun ja, die meisten der fünf Toten haben sich wohl selbst in die Luft gesprengt.

      Eine Kerze würde ich für diesen Personenkreis nun nicht aufstellen.

      Verboten waren die Kugelbomben auch.