Trauern während Corona: „Alles ist gerade zu viel verlangt“

Seit Corona sterben viele Menschen allein. Unerträglich, findet Petra Bahr vom Deutschen Ethikrat. Ein Gespräch über Schuld, Scham und Trauer.

Nahaufnahme von Petra Bahr im schwarzen Rollkragenpulli

Petra Bahr wünscht sich im Umgang mit uns selbst und anderen mehr Barmherzigkeit – und Disziplin Foto: Christian Wyrwa

taz am wochenende: Frau Bahr, Zahlen, Daten, Fakten gibt es en masse zur Coronapandemie. Aber über die Menschen, die am Virus gestorben sind, spricht kaum einer. Warum?

Petra Bahr: Morgens erst mal die Todeszahlen wie Börsendaten – das ist für viele Routine geworden. Zahlen sind anonym und berühren von Ferne, ohne dass es je existenziell würde, weil die Lebensgeschichten hinter den Diagrammen verschwinden. Über tausend Tote am Tag. Eine erschreckende Zahl, die zur Gewöhnung zu werden droht. Es sterben nur die anderen. Bis es jemanden im Bekanntenkreis trifft. Alle wissen, Corona ist eine kollektive Katastrophe, aber die Tode werden immer noch wie individuelle Schicksalsschläge behandelt.

In Staaten wie Italien oder Spanien wurde der Toten öffentlich gedacht. Hierzulande zögert die Politik.

So ein zivilreligiöser Akt, den ja auch der Bundespräsident angekündigt hat, wäre ein wichtiges Zeichen. Denn vor hundert Jahren, nach der letzten Pandemie, sind die Toten oft einfach aus dem Dorf- oder Familiengedächtnis verschwunden. Das droht nun auch. Gedenkorte für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs gab es überall, auch in den Kirchen. Tafeln oder Erinnerungsorte für die Toten der Spanischen Grippe gibt es kaum. Eine Pandemie ist zwar kein nationales Unglück wie ein Terroranschlag oder ein entgleister ICE, aber trotzdem wäre so eine öffentliche Geste gut, nicht nur gegen das Vergessen der Toten, sondern auch als Mahnung an die Davongekommenen. Wie verletzlich wir doch sind, unsere Körper, unsere Freiheit, mitten in den Steuerungsfantasien und der Fortschritte in der Medizin. Zu einem solchen Gedenktag gehören auch diejenigen, die bis zur Erschöpfung dafür gesorgt haben, dass es nicht noch schlimmer wird. Ebenso wichtig fände ich es, wenn in den Kommunen die Toten und ihre Geschichte sichtbarer würden.

Wie wird in Ihrer Kommune der Coronatoten gedacht?

Es gab am Ewigkeitssonntag, also zum Ende des Kirchenjahrs, einen zentralen ökumenischen Gedenkgottesdienst in Niedersachsen. Das war ein erster, wichtiger Schritt. In den sozialen Medien entstehen aber Erinnerungsorte und sehr schöne Initiativen. Unter dem Hashtag #mehralsnureinezahl hat ein junger Vikar eine Initiative auf Instagram gestartet, mit Minibiografien der Verstorbenen, die nun viral geht.

Viele Menschen sterben derzeit allein. Nicht nur an Covid-19. Wie trauern wir in Pandemiezeiten?

Es gibt keine Regel, denn wir trauern alle unterschiedlich. Dass Menschen allein sterben müssen in einer Gesellschaft, die Menschenwürde als zentrale Horizontbestimmung ihres Selbstverständnisses hat, finde ich unerträglich. Jetzt müssen viele aushalten, dass sie ihre Liebsten nicht mehr sehen oder begleiten konnten. Zur Trauer kommen oft schwere Schuldgefühle. Diese „Schuld“ ist die Folge systemischen Versagens – aus Unwissenheit, vielleicht auch aus Trägheit. Sie wird dennoch Folgen haben, wie die Scham, die entsteht, wenn Menschen andere anstecken. Schuld und Scham wandern ins kollektive Unterbewusste und kommen unter Umständen an Stellen wieder hervor, wo sie niemand erwartet. Als Aggressivität oder als Verzweiflung. Jetzt hat man vielerorts erkannt, dass eine Gesellschaft unmenschlich wird, wenn sie staatlich verordnet, dass Menschen allein sterben müssen.

Auch zuvor sind viele Menschen einsam gestorben – und es passiert weiter. Gekümmert hat es keinen.

Jahrgang 1966, ist seit 2017 Regionalbischöfin für den Sprengel Hannover in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. 2020 wurde sie zum Mitglied des Deutschen Ethikrats gewählt. Sie ist verheiratet und hat einen Sohn, lebt in Hannover und Berlin.

Wenige, ja. Und auch vor der Pandemie saßen – nicht nur alte – Menschen Jahre in ihren Wohnungen oder in einer Pflegeeinrichtung, ohne dass jemand vorbeigekommen wäre, ohne Zärtlichkeit, ohne offenes Ohr. Vielleicht hat die Schonungslosigkeit, mit der eine Gesellschaft nun auf den Umgang mit Schwachen und Alten guckt, auch etwas Heilsames. Einsamkeit kann man nicht mit Geld bekämpfen, sondern nur mit menschlicher Nähe. Das rückt nun hoffentlich mehr ins Bewusstsein.

Solange wir uns nicht nahekommen dürfen, sollen es Technologien richten. Können wir digital trauern?

Es ist ein Weg. Trauer ist hochindividuell, und in einer Welt, in der Menschen sehr mobil sein wollen, suchen sie sich virtuelle Räume, um an die Verstorbenen zu erinnern. Es verschwinden aber kollektive Formen des Trauerns, Rituale, auch öffentliche Abschiedsformen. Das zeigt sich in der Pandemie. Trauerprozesse werden unter der Hand individualisiert – und Abschiede unsichtbar.

Also brauchen wir Rituale wie eine gemeinsame Beerdigung, die Trauerfeier, den Leichenschmaus?

Vielen sind die christlichen Sterbe- und Trauerrituale fremd. Sie wollen es gern persönlich und ganz anders. Angesichts eines plötzlichen Todes bleibt aber oft gar keine Energie, selber etwas zu gestalten. Trauer kostet Kraft, dazu gibt es am Anfang viel zu regeln. Als Pastorin komme ich in verschiedene Trauersituationen. Die einen wollen es schnell hinter sich bringen, manche sagen: Machen Sie das mal irgendwie. Die Dritten wollen, dass der Trauergottesdienst mit Musik und anderen Elementen den Vorlieben des Verstorbenen entspricht. Ein Testament, in dem schon ein Gottesdienst mit Liedern und Lieblingstexten ausgearbeitet ist, gibt es immer seltener. Der Tod macht viele sprach- und hilflos. Da sind überlieferte Formen sehr entlastend. Doch in pluralen Gesellschaften gibt es nicht „die“ Kulturform des Abschieds. Die gewonnene Freiheit von der Tradition ist auch eine große Leerstelle.

Wie hat sich Ihre Arbeit als Seelsorgerin, als Pastorin in Pandemiezeiten verändert?

Das Seelsorgebedürfnis der vermeintlich Starken, die viel Verantwortung für andere haben, steigt. Unternehmerinnen, Politiker, Behördenleiterinnen – die Erschöpfung, der permanente Druck, die Dauerbeobachtung durch die Medien, auch das Bewusstsein, Fehler zu machen, belasten schwer. Sie sind es nicht gewohnt, aus Müdigkeit oder Nichtmehrweiterwissen heulend im Büro zu sitzen, wenn die letzten Mitarbeiter den Raum verlassen haben. Dazu kommt ein Thema, das eigentlich schon vor Corona wichtig gewesen wäre, die Kehrseite der Individualisierung: große Einsamkeit, auch von Jüngeren. Es gibt aber auch eine schöne Entdeckung. Ich führe Seelsorgegespräche mittlerweile nicht mehr nur online oder am Telefon. Wenn man zu zweit spazieren geht, kilometerweit, wird das Reden leichter. Und das Schweigen auch.

In der Pandemie trauern wir um die Covid-19-Toten. Aber viele Menschen leiden auch darunter, dass die Kneipe oder der Sportverein als soziale Kontakte wegfallen. Ist das unfair?

Es gibt zwei altmodische Tugenden, die helfen: Barmherzigkeit und Disziplin. Wenn jemand immer viel Sport gemacht hat, kann es durchaus sein, dass der- oder diejenige darunter maßlos leidet. Den unterschiedlichen Leidensdruck gerade in dieser gereizten Grundatmosphäre einfach zu akzeptieren und sich immer klarzumachen, dass die hinter den Fenstern gegenüber möglicherweise gerade anders unter dieser Pandemie leiden als ich, das ist viel verlangt. Ich fand zum Beispiel den öffentlichen Umgang mit den 17- bis 25-Jährigen schwierig. Daraus eine feierwütige Generation zu machen, bloß weil sie dem entsprechen, was entwicklungspsychologisch völlig altersgemäß ist, und dabei sogar noch irrsinnig diszipliniert sind. Es gibt eine untergründige Suche nach Schuldigen. Das andere ist die existenzielle Ebene: Wer mit Künstlerinnen oder Musikern befreundet ist, weiß, dass die nicht nur ein faktisches Berufsverbot haben. Sie verlieren auch das Medium, mit dem sie die Welt gestalten. Das ist mehr, als nur den Job zu verlieren.

Die Coronamaßnahmen sind hart, dauern seit Wochen an. Und Sie sprechen von Disziplin?

Ein Virus kann man schlecht mit einem „Es reicht!“ in die Schranken weisen. Wenn die Einsicht über lange und inkohärente Regelwerke nicht mehr hilft, hilft zwischendurch nur Disziplin. Damit meine ich nicht, staatliche Verordnungen kritiklos hinzunehmen. Im Gegenteil. Aber ab und zu melden sich doch ganz menschliche Bedürfnisse, wie endlich mal wieder mit drei Freundinnen einen Abend zu verbringen. Gegen diesen Impuls, aber auch bei dem Gefühl, so viel verabschiedet zu haben, ohne zu wissen, was kommt, hilft mir Disziplin, ein Morgenritual, feste Zeiten für Dinge, die schön sind. Diese Mischung aus Großzügigkeit und Disziplin ist die Haltung, die ich gerne hätte.

Wenn Freiheiten derart beschränkt werden, ist das viel verlangt.

Alles ist gerade zu viel verlangt. Der Grundton kollektiver Gereiztheit zeigt das. Barmherzigkeit, mehr innere Großzügigkeit würde helfen. Nicht gegenüber Leuten, die finden, der Rest der Welt hätte ihre richtungslose Wut auszuhalten. Ich meine zum einen Alltagssituationen, wo drei Zehnjährige Fußball spielen, und sofort kommt jemand daher und fragt, ob sie denn aus demselben Haushalt kommen. Aber auch gegenüber denen, die unter Zeitdruck weitreichende Entscheidungen treffen müssen. Ich wünsche mir eine öffentliche Fehlerkultur, die es nicht auf persönliche Diffamierung anlegt, die ohne die Maßlosigkeit wechselseitiger Verdächtigung auskommt, mehr fragt und nicht ganz so schnell immer schon alles besser weiß.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Wann kommt Ihre Disziplin an ihre Grenzen?

Belehrende oder wütende Briefe derer, die finden, die Kirche könne nur dann glaubwürdig sein, wenn sie sich gegen die Abstandsregeln und Verordnungen wehrt. Da werden absurde Parallelen zur Kirche in der Diktatur gezogen, Dietrich Bonhoeffer muss als Gewährsmann herhalten. Die persönlichen Beschimpfungen gehören zu Ämtern dazu, aber dieses gefährliche Framing und die Selbstgewissheit derer, die es vertreten, bringt mich in Rage und macht mich, je nach Tagesform, auch ratlos.

Alle Hoffnung liegt auf Impfstoffen. Ist es gerecht, dass sehr alte Menschen zuerst an der Reihe sind?

„Es sterben nur die anderen. Bis es jemanden im Bekanntenkreis trifft“

Die Entscheidung, die wir in Deutschland getroffen haben, finde ich richtig: Wir impfen zuerst die, die das mit Abstand größte Risiko haben, in der Pandemie zu versterben. Wenn man selbst an diesen Priorisierungsdebatten beteiligt ist, merkt man aber auch, wie schwierig es ist, wenn es in die Details geht. Was ist mit den Bestattungsunternehmern? Warum die eine Einrichtung schon jetzt, die andere erst in drei Wochen? Was ist mit den Lehrerinnen, die nicht vorrangig geimpft werden, wenn wir jetzt doch merken, dass es an den Schulen ein erhöhtes Risiko gibt? Die gleiche Würde und Verteilung eines sehr knappen Guts – da entscheidet entweder Geld und Macht oder, wie bei uns, eine Priorisierung.

Sollen Geimpfte mehr Freiheiten bekommen?

Die Freiheitseinschränkungen sind fast unerträglich hart, sich daran zu gewöhnen fände ich fatal. Das ist der Hintergrund dieser Debatte. Freiheit hat allerdings auch eine kollektive Dimension. Deshalb ist Solidarität im Grundzug richtig. Nur bleibt Solidarität eine leere Formel, wenn sie nicht in beide Richtungen geht. Man könnte ja auch sagen: Wir sind solidarisch mit den Hochbetagten, die so viel gelitten haben, und freuen uns, wenn sie nach der Impfung vor allen anderen wieder freier leben können. Der Hinweis, sie hätten damit noch Monate zu warten, kommt mir fast zynisch vor. Es gibt auch eine Ethik der Zeit. Doch bislang ist das eine spekulative Debatte. Es ist ja nicht mal klar, ob Geimpfte das Virus trotzdem weitergeben können.

Über Freiheiten für Geimpfte debattiert auch der Ethikrat. Verändert sich die Art des Austauschs in der Pandemie?

In der Sache diskutiert der Ethikrat digital, oft ganze Tage. Das geht schon irgendwie. Was aber fehlt, ist das persönliche Kennenlernen, Zeit für Zwischentöne, ja, auch Gelächter nach stundenlangen kontroversen Debatten.

Noch sind wir mittendrin. Aber irgendwann ist die Pandemie vorbei und es gibt jede Menge gesellschaftliche Scherben zu kitten. Wer kann das?

Ich setze auf die Künste, die dem Namenlosen eine Sprache geben. Über den ganzen Diagrammen darf man die Orte nicht vergessen, an denen Menschen ihre Geschichten erzählen – und Gehör finden. Nicht nur die der Toten, sondern auch die von denen, die das Virus an Leib und Seele kränker gemacht hat. Außerdem wäre das die Stunde einer Zivilgesellschaft, die sich in der Krise neu entdeckt. Auch die Kirchen finden neue Rollen im Stadtteil. Leere Gemeindehäuser öffnen sich für Schüler und Schülerinnen aus benachteiligten Familien, es entstehen Kindertafeln und Orte für Jugendliche, denen die Rahmenbedingungen für gutes Lernen und Ermutigung fehlen. Kirchen bleiben offen, als Räume der Stille und der Besinnung, auch als Orte, wo Verzweiflung nicht peinlich ist. Pastorinnen und Pastoren verlagern vieles, was früher hinter verschlossenen Räumen geschah, nach draußen. Das geht sogar im zugigen Niedersachsen.

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