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Die WahrheitTrampelnde Emmas der Lüfte

Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (219): Besonders bei Strandurlaubern sind die durchsetzungsfähigen Möwen unbeliebt.

Eine macht noch keinen Sommer, aber zwei machen schon mal ordentlich Krawall Foto: dpa

Um zu verdeutlichen, wie kleine Ursachen große Wirkungen haben können, erklärte der Chaostheoretiker Edward Lorenz, eine Möwe in Nantucket könne mit ihrem Flügelschlag einen Wirbelsturm in Texas auslösen. Was können Möwen noch anrichten?

Erst einmal bewirkte die Überfischung und Verschmutzung der Meere, dass die Möwen uns immer näher gekommen sind. Sie klauen Fischbrötchen und Eiswaffeln aus der Hand, Würstchen und Pommes vom Tisch, Meisenringe aus dem Garten, Schülern die Pausenbrote und gehen mutig in Supermärkte, um sich eine Tüte Chips zu schnappen.

Möwen an der amerikanischen Pazifikküste rauben Fische aus den Schnabelsäcken der Pelikane. Im Stettiner Haff klauen Möwen den Enten Muscheln aus den Schnäbeln. Um an das Fleisch zu gelangen, fliegen Silbermöwen mit ihnen in die Luft und lassen sie auf Steine fallen. Junge Möwen machen es ihnen nach, lassen die Muscheln aber oft noch auf Sanddünen fallen. Auf Regenwürmer erpichte Silbermöwen fliegen auf Wiesen und „trampeln“ dort: „Sie veranlassen dadurch die Regenwürmer, an die Oberfläche zu kommen“, beobachtete der holländische Möwenforscher Niko Tinbergen. Lachmöwen trampeln dagegen auf dem Schlick der Wattenmeere.

Notfalls Schrecken und Verteidigungswut

Es gibt etwa 100 Möwenarten, alle sind mehr oder weniger weiß. Der Dichter Christian Morgenstern meinte: „Die Möwen sehen alle aus, als ob sie Emma heißen.“ Es sind Allesfresser. Sie können 30 Jahre alt werden und dementsprechend viele Erfahrungen machen. Sie sind Koloniebrüter und schützen ihre Gelege kollektiv gegen Feinde. Greifvögel, Hunde, Menschen, selbst Reiher versetzen sie „in panischen Schrecken und Verteidigungswut“.

Im Allgemeinen werben die Weibchen um die Männchen. Wenn diese sich bekämpfen, „schauen die Weibchen stets teilnahmsvoll und aufgeregt zu, kämpfen jedoch nur selten und dann gewöhnlich mit anderen Weibchen“. Ehen von Silbermöwen gelten „lebenslänglich“, beide wechseln sich beim Brüten ab. „Trotzdem bleiben sie wahrscheinlich wintersüber nicht beisammen.“

Unverpaarte Silbermöwen sammeln sich abseits der Brutkolonien in „Klubs“, wo die Jungtiere zusammenfinden. „Das erste Anzeichen von Paarungsstimmung beim Männchen ist Angriffslust, die sich vornehmlich gegen andere Männchen richtet.“ Wenn die Paare sich einig sind, suchen sie sich ein Revier, das sie nach Möglichkeit immer wieder besetzen. Bei den Dreizehenmöwen gab es Jahre, in denen sie kollektiv beschlossen, nicht zu brüten.

Inzwischen breiten sich einige Möwenarten auch im Sommer von den Küsten ins Inland aus, wo sie auf andere Gefahren, aber auch auf neue Nahrungsmöglichkeiten stoßen. „Räuberische Möwen terrorisieren Urlauber“, titelten englische Zeitungen, der Premierminister forderte eine „ausführliche Debatte“ über diese Vögel, die in den Städten jährlich um fast 25 Prozent zunähmen. Aber zum einen wären die Seebäder „ohne diese Küstenfischer und Strandgutsammler einfach undenkbar“, schreibt Tinbergen (in: „Die Welt der Silbermöwe“, 1958). Und zum anderen behaupten die Einheimischen dort, dass sie nur Urlauber überfallen, die die Vögel am Strand mit Brotresten füttern. Auch auf den Ausflugsschiffen werden die Möwen in der Luft gefüttert, überhaupt umkreisen sie gern Schiffe, vor allem die der Fischer.

Lieber Putzen und Schlafen

Ich fahre eigentlich nur wegen der Möwen ans Meer. In Warnemünde wird Möwenfüttern mit einer Geldstrafe bis zu 5.000 Euro geahndet. Auf Sylt versucht man, die Möwen über Lautsprecher mit Greifvögelschreien und Schallwellen zu vergrämen. Von den Nordsee-Vogelinseln Memmert und Trischen berichten Vogelwarte, dass die dort brütenden Möwen sich wochentags von den Abfällen der Krabbenkutter ernähren. An Sonntagen, wenn die Schiffe nicht auslaufen, fressen sie auf Memmert die Eier und Jungen der anderen Brutvögel, während sie auf Trischen Eier und Jungen von Möwenpaaren fressen, die gerade nicht am Nest sind.

Möwen sind wenig spezialisiert. Laufen, fliegen und schwimmen können sie gleichermaßen gut, aber nicht so gut wie echte Meeresvögel. Das alles beherrschen Möwen nur „bis zu einem gewissen Grad. Ihre wesentlichste Eigenart ist ihre Vielseitigkeit“, meint Tinbergen. Er beobachtete jahrzehntelang Kolonien von Silbermöwen: Man muss ausharren und viel Geduld haben, „denn Silbermöwen scheinen viel Zeit zu haben. Sie verbringen einen guten Teil des Tages mit Putzen und Schlafen.“

Heringsmöwen ziehen als echte Zugvögel im Winter bis nach Westafrika. Die meisten Möwenarten fliegen nach der Seebädersaison bloß ins Landesinnere, nach Berlin etwa, wo sie auf dem Alexanderplatz zwischen Tauben, Spatzen und Krähen nach Futter suchen. Zum Krakeelen treffen sie sich auf dem Dach des Kaufhauses Alexa, zum Schlafen auf den städtischen Wasserflächen zwischen Enten und Schwänen. Brutkolonien gibt es laut Nabu „besonders im Regierungsviertel“. In einer Großmöwenkolonie auf dem Dach des Posthofes in Frankfurt am Main brütet seit 2009 ein Mischpaar aus Mantel- und Mittelmeermöwe. Einer der daraus hervorgegangenen Hybriden zog laut Wikipedia 2015 „erfolgreich mit einer Mittelmeermöwe zwei Junge groß“.

Besser Schweigen und Klauen

Anders als für die Seebadmanager sind Möwen für die Seeleute Hoffnungsträger: Wenn man sie sah, war fast schon Land in Sicht. Der englische Autor Adam Nicholson schreibt in seinem Buch „Der Ruf des Seevogels“ (2017): „Für Homer waren Seevögel Heilsbringer.“ Wahrscheinlich „war es eine Dreizehenmöwe“. Er zitiert aus Esther Cullens „Klassiker“ über Dreizehenmöwen. Sie konnte die Möwen anhand der Spitzen ihrer Handschwingen unterscheiden. 1954 saß sie mit Niko Tinbergen auf den Klippen von Near Farne. Sie „beobachteten die erbitterte Rivalität zwischen benachbarten Dreizehenmöwen wie vom Parkett eines Opernhauses aus. Auf der Bühne wurde eine italienische Oper gegeben.“ Als zu guter Letzt „die Gerechtigkeit“ siegte – applaudierten die beiden Möwenforscher.

Ein Kapitel hat Adam Nicholson den Eismöwen gewidmet, den „ultimativen Polarvögeln“. Darin findet sich der Satz: „Schläue ist in der Eismöwenwelt allgegenwärtig.“ Aber bedauerlicherweise führe „die industrialisierte Welt an allen Fronten Krieg gegen die Möwen, vor allem weil sie zu viel kosten“, um ihre Schäden zu beseitigen. Es sind Kultur- beziehungsweise Tourismusfolgen. Aus den Stadtmöwen wird vielleicht einmal eine neue Art. Manche versuchen bereits, mit den Menschen verbal einen „Deal“ auszuhandeln, statt sie schweigend zu beklauen.

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