Tourismus in Indien: Armut schauen
Auf Besichtigungstour durch Mumbais „informelle Siedlungen“ geht die Urteilskraft leicht verloren. Was soll man bedauern, was bewundern?
Slum-Sightseeing ist ein seltsames Geschäft. Man zahlt eine bestimmte Summe Geld, um sich für einige Stunden unter fachkundiger Anleitung das Leben der Armen aus nächster Nähe anzuschauen. Doch selbst wenn mal unfreundlich zurückgeschaut wird, politisch bleibt alles korrekt. Der gezahlte Betrag, so heißt es, kommt allein den angeschauten Menschen und ihrer Community zugute.
Wer sich dem Thema in Mumbai nähern will, hat in der Megacity gleich in mehrerer Hinsicht die Qual der Wahl: Indiens Wirtschafts- und Sehnsuchtsmetropole gilt mit ihren rund 2.000 „informellen Siedlungen“, in denen über die Hälfte der Bevölkerung lebt, zu Recht als eine der Slum-Hauptstädte der Welt.
Die Quartiere der Armen sind über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Die oft improvisierten Behausungen – bisweilen gemauert, meist nur aus Wellblech, Holz und Plastikplane – siedeln im Schatten von Luxushochhäusern und Shoppingmalls, entlang Schienen und Bahnhöfen, in besten Strandlagen und im Gestank schwelender Müllkippen.
Es gibt alte, etablierte Slums, deren Bewohner über Sanitäranschlüsse, Mieteinnahmen und politischen Einfluss verfügen. Es gibt neue Slums, deren Menschen jederzeit Opfer von Abrissbagger oder Schlägertrupps werden können. Schlechter als Slum ist nur noch die Abwesenheit von Slum: Menschen im Schmutz des Rinnsteins mit Baby, Kochgeschirr und zwei Quadratmetern Pappe. Auch danach muss man in Mumbai nicht lange suchen.
Ein Armutspatchwork
Anhaltende Zuwanderung und eine weitgehend abwesende Stadtplanung sorgen dafür, dass sich an diesem Armutspatchwork nicht viel ändern kann. Chhatrapati Shivaji, Mumbais Hauptbahnhof, erlebt täglich bis zu 2.000 meist mittellose Neuankömmlinge, die nach Arbeit, Zukunft und Behausung suchen. Wer über Slums recherchieren, forschen oder promovieren will, ist in dieser Stadt auf jeden Fall immer am richtigen Ort.
Touristen sind meist weniger ambitioniert. Urlauber mit begrenztem Zeitbudget suchen eher nach kompakten, abgeschlossenen Erlebnissen, die mitunter zwar einen gewissen Thrill bieten dürfen, hinsichtlich emotionaler Verdaulichkeit und Wiedererzählwert aber Social-Media-Kanal-fähig sein sollten: „In meinem heutigen Video erzähle ich euch jetzt mal, wie es in einem indischen Slum so aussieht.“
Auch dafür ist in der Stadt kein Mangel an Gelegenheiten. Touristen, die ihre Komfortzone für ein paar Stunden verlassen wollen, finden in Mumbai mittlerweile über sechzig Reiseveranstalter, die sogenannte Slum-Touren unterschiedlichster Art und Dauer anbieten. Sie heißen Reality Tours, Slumgods oder Mohammmed’s Dharavi Slum Tours. Was auf diesen Touren Slum ist und was nicht, wird dabei nicht immer ganz klar.
Es gibt Fahrten nach Kamathipura, Mumbais altem Rotlichtbezirk, in dem zwar noch Prostituierte arbeiten, der aber vor allem eine lebhafte Arbeiter- und Handwerker-Wohngegend und beileibe kein Slum ist. Auch Dhobi Ghat, von den Veranstaltern als „Wäsche-Slum“ angeboten, weil seine Bewohner hier für Hotels und Krankenhäuser waschen, ist eher ein emsiges Dienstleistungsquartier als eine Erstadresse der Elenden. Die allermeisten Touren aber führen nach Dharavi, eine Gegend in bester Citylage unweit des Flughafens, in der rund eine Million Menschen leben.
Kein Ort der Hoffnungslosigkeit
Dharavi ist so etwas wie die Mutter aller Slums und wird gemeinhin als „größter Slum Asiens“ bezeichnet. Vielleicht ist es auch der größte Slum der Welt. Derartiges weckt Fantasien, etwa die, dass hier „Menschen ihr Leben in großer Armut und Hoffnungslosigkeit fristen“, wie es im Netz auf einer „Slum-Top-Ten-Liste“ heißt. Das ist allerdings ziemlicher Unsinn.
Das Viertel ist nicht durchgängig arm und schon gar kein Ort der Hoffnungslosigkeit, sondern ein wirtschaftliches Kraftzentrum mit erheblicher Wertschöpfung, hohen Mieten, vergleichsweise guter Infrastruktur und großer Anziehungskraft. Es gibt nicht nur Schulen, Ärzte und Juweliergeschäfte, sondern such enorm viel Arbeit: Links und rechts der engen Gassen werden in winzigen Werkstätten Plastikabfälle recycelt, Farbtöpfe gereinigt, Aluminiumteile gestanzt, Oberhemden geschneidert, Lederwaren gegerbt oder Kekse gebacken.
„Wir haben hier auch ein weißes Haus und einen Obama“, grinst Tour Guide Pawan, der seinen Gästen nach all dem Lärm und Gestank etwas Erholsames bieten will. Obama ist nur eine Taube und das Gebäude nur ein Taubenschlag mit dem Namen „White House“. Doch als Fotomotiv für Touristen funktioniert der Gag immer wieder super.
Fatima, Haushälterin
Die Probleme des Quartiers, etwa die teuren Mieten, die hohen Schadstoffbelastungen der Arbeiter oder der Mangel an Sanitäranlagen, werden auf dem Rundgang eher beiläufig behandelt. Dass die meisten Einwohner keine eigenen Toiletten haben und für die Angebote privater Toilettenbetreiber jedes Mal zahlen und Schlange stehen müssen, ist nicht besonders fotogen.
Die Slum-Sightseeing-Szene
„Wer hier aufwächst, lernt Darm und Blase frühzeitig zu kontrollieren. Wir zahlen hier für alles, auch für den Gang zur Toilette“, erzählt Fatima, eine junge Frau, die ihr Geld als Haushälterin in den Wohnungen der Mumbaier Mittelschicht verdient.
Um die Marke Dharavi an Touristen zu verkaufen, sollte man andere Botschaften parat haben: Besser sind immer die Geschichten von Prosperität, Selbstorganisation und multiethnischer Solidarität, die westlichen Besuchern Möglichkeiten moralischer Entlastung bieten. Zu den Anbietern, die solche Narrative gut beherrschen, zählt Chris Way, Gründer des größten Dharavi-Veranstalters Reality Tours. Durch seinen Erfolg in Mumbai ist der Brite heute so etwas wie ein Business Angel der globalen Slum-Sightseeing-Szene.
Die „Potenziale“ des Gewerbes, so Way auf seiner Unternehmenswebsite, habe er schon vor 15 Jahren in den brasilianischen Favelas gesehen. Mit seinen Erfahrungen aus Indien hilft er derzeit einer NGO auf den Philippinen, ein ähnliches Konzept in Manila zu verwirklichen. Wäre Slum-Tourismus eine Aktie, man müsste jetzt wirklich einsteigen.
Sunil Rayana Kleinunternehmer
All das nur fragwürdig zu finden, wird dem Phänomen dennoch nicht gerecht. Slum-Touren bedeuten zwar oft eine Entpolitisierung von Armut, bieten den Akteuren jedoch oft auch neue Perspektiven und Kontakte in einem ansonsten meist begrenzten Alltag.
So etwa im Leben von Sunil Rayana, der 2013 mit zwei Freunden unter dem Namen Slumgods zunächst HipHop- und Breakdance-Kurse für Jugendliche angeboten hat, heute aber unter gleichem Label einen sich allmählich etablierenden Veranstalter betreibt.
Dass das Geschäft stetig besser läuft, verdankt er auch Touristen, die er auf seinen Touren kennengelernt hat, darunter die Top-Managerin einer internationalen PR-Agentur. „Von ihr habe ich sehr viel gelernt, nicht nur über Marketing, auch über Selbstbewusstsein und Durchhaltevermögen“, sagt der 28-Jährige, dessen Ambitionen heute deutlich größer sind als vor vier Jahren.
Inzwischen träumt er davon, in Dharavi produzierte Waren unter einer eigenen Dachmarke zu verkaufen. Auch die Vermarktung von Recycling-Möbeln sei eine spannende, in Indien noch kaum bekannte Idee, glaubt er.
Das teuerste Wohnhaus der Welt
Nicht jede Slum-Biografie verläuft derart glücklich. Wer erleben will, wie grimmig Mumbais Realität sein kann, sollte keine Tour buchen, sondern Spaziergänge durch die Stadt unternehmen. Etwa zum Bahnhof Bandra, wo im Oktober zunächst ein Feuer und dann die Abrissbagger ein gesamtes Quartier dem Erdboden gleichgemacht haben. Die Behausungen sind für alle Zeiten zerstört, doch die meisten ihrer Bewohner sind immer noch da.
Hiroschima muss einst so ähnlich ausgesehen haben: Einige suchen in den Trümmerfeldern nach Verwertbarem, andere beginnen sich bereits wieder einzurichten und haben inmitten von Schutt, Asche und sich tummelnden Ratten schon wieder Zeltplanen aufgeschlagen und Feuer angezündet – ein selbst für die hier umsteigenden Pendler einigermaßen verstörendes Bild.
Ohne einen Abstecher in den Süden der Stadt bleiben solche Eindrücke jedoch unvollständig. Kaum acht S-Bahn-Stationen von Bandra entfernt steht seit 2010 das nach dem Buckingham Palace angeblich teuerste Wohnhaus der Welt, auf dessen 27 Etagen der indische Milliardär Mukesh Ambani mit sechsköpfiger Familie und einer unbekannten Zahl von Bediensteten lebt. Besichtigungstouren, etwa über die Gegensätze des modernen Indiens, werden hier nicht angeboten, doch ein kleines, von der Straße geschossenes Erinnerungsfoto lässt das allgegenwärtige Sicherheitspersonal gern durchgehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken