Tourismus im Globalen Süden: „Pauschaler Verzicht auf Flugreisen greift zu kurz“
In Berlin trifft sich die internationale Tourismusbranche. Nachhaltiger Urlaub bietet im Globalen Süden Chancen, sagt Alien Spiller von Tourism Watch.
taz: Frau Spiller, Sie sehen nachhaltigen Tourismus als Chance für Länder und Regionen. Welche Chancen sind das?
Alien Spiller: Tourismus schafft Arbeitsplätze – auch für informelle und ungelernte Arbeitskräfte. Besonders im Globalen Süden ist der Tourismussektor ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Er wirkt entlang der gesamten Wertschöpfungskette – vom Handwerk über die Gastronomie bis hin zu Transport und Unterkunft – und fördert dadurch eine inklusive wirtschaftliche Entwicklung.
ist Referentin für Tourismus und Entwicklung und Leiterin der Arbeitsstelle Tourism Watch bei Brot für die Welt.
Gleichzeitig kann gemeinschaftsbasierter Tourismus einen wichtigen Beitrag zum Natur- und Artenschutz leisten. In vielen Regionen Afrikas, in denen lokale Gemeinschaften Schutzgebiete verwalten, leben mehr Wildtiere auf gemeinschaftlich genutzten Flächen als in staatlich geführten Nationalparks. Werden Tourismusprojekte partizipativ geplant und lokale Ressourcen verantwortungsvoll genutzt, profitieren die Gemeinschaften direkt und setzen sich stärker für den Erhalt natürlicher Lebensräume sowie die Koexistenz von Mensch und Natur ein.
taz: Wie wichtig ist Tourismus aus Europa für die von Ihnen unterstützten Projekte?
Spiller: Ich war kürzlich in Südafrika und habe dort mehrere gemeindebasierte Tourismusprojekte besucht. Viele von ihnen sind in hohem Maß auf internationale Tourist*innen angewiesen – insbesondere auch auf Gäste aus Europa. Was vor Ort deutlich wurde: Nationaler Tourismus spielt zwar eine wichtige Rolle, konzentriert sich aber häufig auf bestimmte Ferienzeiten oder Feiertage. Europäische Reisende hingegen verteilen sich über das ganze Jahr und tragen so dazu bei, saisonale Schwankungen auszugleichen. Diese kontinuierliche Nachfrage sorgt für stabile Einnahmen, die für die Projekte entscheidend sind, um Arbeitsplätze zu sichern, Infrastruktur zu erhalten und langfristig planen zu können.
Das Projekt: Tourism Watch bei der Entwicklungsorganisation Brot für die Welt bietet wegweisenden Tourismusinitiativen eine Plattform, um ihre Arbeit und Erfahrungen zu teilen. Ein Beispiel zum Thema koloniale Kontinuitäten im Tourismus ist Suyatri Community Tourism in Indien. Die eröffnet Frauen aus der marginalisierten Siddi-Gemeinschaft afrikanischer Herkunft Einkommensmöglichkeiten im gemeindebasierten Tourismus.
Die Preise: Den TO DO Award für partizipativen Tourismus vergibt der Studienkreis für Tourismus und Entwicklung e. V. dieses Jahr an Get Up and Go Colombia, die vom bewaffneten Konflikt betroffene Gemeinschaften in Kolumbien durch nachhaltigen Tourismus beim Friedensaufbau unterstützt. Den TO DO Award Human Rights bekommt Neha Arora, Gründerin von Planet Abled, für ihr herausragendes Engagement für barrierefreien und inklusiven Tourismus.
taz: In Deutschland und anderen westlichen Ländern ist im Rahmen der Klimabewegung das Fliegen als CO2-Verursacher in Verruf geraten. Können Sie es moralisch verantworten, trotzdem weit entfernte Projekte anzupreisen?
Spiller: Klimagerechtigkeit und wirtschaftliche Entwicklung stehen hier tatsächlich in einem Spannungsfeld, das sich nicht einfach auflösen lässt. Menschen im Globalen Süden sind oft am stärksten von den Folgen der Klimakrise betroffen, während viele von ihnen auf Einnahmen aus dem internationalen Tourismus angewiesen sind.
taz: Welche Möglichkeiten gibt es?
Spiller: Wir empfehlen, Flugreisen bewusst zu wählen – seltener zu fliegen, dafür länger zu bleiben. So lässt sich der CO2-Fußabdruck pro Reisetag verringern und die lokale Wirtschaft nachhaltiger unterstützen. Auch vor Ort können Emissionen reduziert werden – etwa durch umweltfreundliche Verkehrsmittel, den Verzehr lokaler Lebensmittel und eine achtsame Ressourcennutzung. Denn verantwortungsvoll zu reisen bedeutet auch, sich dem lokalen Umgang mit Ressourcen anzupassen.
taz: Müssen wir nicht grundsätzlich über touristische Flugreisen diskutieren?
Spiller: Die Diskussion über touristische Flugreisen ist wichtig – der Tourismus verursacht rund 9 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen. Klimaschutz im Reisesektor ist daher unverzichtbar. Gleichzeitig sollte die Debatte differenziert geführt werden: Ein pauschaler Verzicht auf Flugreisen greift zu kurz. In vielen Reiseländern, insbesondere im Globalen Süden, ist der internationale Tourismus eine zentrale Einkommensquelle. Zugleich wächst in Schwellenländern die Mittelschicht, wodurch auch dort das Bedürfnis nach Mobilität und kulturellem Austausch zunimmt. Reisen sollte kein Privileg weniger sein, sondern so gestaltet werden, dass ökologische Verantwortung und globale Teilhabe Hand in Hand gehen.
taz: Wie funktioniert das?
Spiller: Es braucht strukturverändernde Maßnahmen – etwa die Dekarbonisierung der Luftfahrt, Investitionen in nachhaltige Infrastruktur und politische Rahmenbedingungen, die einen fairen und klimafreundlichen Tourismus fördern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Der Pazifismus der Linkspartei
Mehr Rationalität wagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Von der Leyen legt Milliarden-Plan zur Aufrüstung Europas vor
Eklat im Weißen Haus
Europa muss jetzt viel Geld bereitstellen
Vorfall in Mannheim
Autofahrer rast durch Fußgängerzone
Unionsvorstoß für Sondervermögen
Ohne eine Reform der Schuldenbremse geht es nicht
Ostdeutschland wählt rechtsradikal
Was, wenn alles nicht mehr hilft?