Tourette in Sozialen Medien: Eine neue Form der Massenhysterie
Seit es den Youtube-Kanal „Gewitter im Kopf“ gibt, steigt die Zahl der jungen Patienten in der Tourette-Ambulanz. Dahinter stecken ernste Probleme.
taz: Frau Müller-Vahl, Sie haben ein neues Phänomen beschrieben: Jugendliche, die sich auf Youtube mit einer Störung infizieren, die aussieht wie Tourette, aber keines ist. Von wie vielen Fällen reden wir hier?
Kirsten Müller-Vahl: Wir haben hier in Hannover, in der Spezialambulanz für Menschen mit Tic-Störungen und Tourette-Syndrom seit Frühjahr 2019 etwas über 40 Patienten gesehen, die eine Tourette-ähnliche Symptomatik haben, aber in Wirklichkeit unter einer funktionellen Störung leiden. Das ist ein weltweites Phänomen. Auf dem europäischen Tourette-Kongress am vergangenen Wochenende haben Kollegen aus England, Dänemark, Ungarn und aus Kanada von ähnlichen Fällen berichtet. Auch dort gibt es Youtuber oder Tiktoker, die ein bestimmtes Bild von Tourette vermitteln.
ist Neurologin und Psychiaterin und leitet die Tourette-Ambulanz an der Medizinischen Hochschule Hannover.
Was ist das Tourette-Syndrom denn eigentlich?
Das Tourette-Syndrom ist definiert als eine chronische, motorische und vokale Tic-Störung, das heißt es bestehen unwillkürliche Lautäußerungen und Bewegungen. Da es sich um eine Entwicklungsstörung handelt, beginnen die Symptome immer in der Kindheit, typischerweise zwischen dem 5. und 9. Lebensjahr. Tics beginnen langsam einschleichend, sodass die Eltern häufig gar nicht mehr genau ausmachen können, wann das angefangen hat. Im Gegensatz zu vorübergehenden Tic-Störungen, die es in der Kindheit relativ häufig gibt, dauern die Tics hier mehr als ein Jahr an und unterliegen im Verlauf ständigen Schwankungen.
Wie präzise ist die Diagnose?
Es gibt leider keinen Biomarker oder Messungen, die man zur Diagnosestellung verwenden kann. Das ist eine rein klinische Diagnose – obwohl das Tourette-Syndrom eine hirnorganische Erkrankung ist. In wissenschaftlichen Studien finden wir zwar spezifische Abweichungen, zum Beispiel in den Aktivitätsmustern des Gehirns, diese Messungen sind aber nicht geeignet, um bei einzelnen Patienten die Diagnose stellen zu können. Bei Kenntnis der typischen Merkmale kann sie aber dennoch eindeutig mit Hilfe eines Interviews und einer Untersuchung gestellt werden.
In Deutschland gibt es seit ein paar Jahren den sehr erfolgreichen Youtube-Kanal „Gewitter im Kopf“ von Jan Zimmermann, mit mittlerweile über zwei Millionen Abonnenten. Zimmermann führt dort sein Tourette-Syndrom vor, das den Namen „Gisela“ trägt. Wie authentisch ist das?
Das muss man differenziert betrachten. Wir haben uns in unserer Arbeitsgruppe sehr viele dieser Videos angesehen – nicht nur von seinem eigenen Kanal, sondern auch von Interviews und anderen Beiträgen. Und da zeigt er sich sozusagen von zwei Seiten: Einerseits gibt es „Gisela“, mit einer veränderten Stimme, die sehr komplexe Flüche und eine Reihe von bizarren und sozial unpassenden Verhaltensweisen an den Tag legt.
In anderen Situationen sieht man ganz andere Symptome, überwiegend mit sogenannten einfachen Tics, wie wir sie bei anderen Tourette-Betroffenen kennen – mit Augenblinzeln, Grimassieren und Kopfrucken. Das ist ein entscheidender Unterschied: Tics im Rahmen des Tourette-Syndroms sind typischerweise motorisch und einfach.
Deshalb ist für uns ziemlich klar – und das ist nicht nur meine Meinung, sondern auch die anderer Experten und von Selbsthilfegruppen: Bei Jan Zimmermann bestehen Tics, aber das meiste, was er auf seinem Youtube-Kanal zeigt, sind funktionelle Symptome. Es fällt außerdem auf, dass primär die Symptome dargeboten werden, die den höchsten Effekt – in Form von Aufrufen, Likes und Reaktionen – erzielen.
Aber könnte es nicht trotzdem sein, dass er damit Vorurteile abbaut, Ausgrenzung vermindert und damit das Leben von Betroffenen leichter macht?
Natürlich ist es grundsätzlich gut, über Krankheiten offen zu sprechen, weil es für die Betroffenen vieles einfacher macht. Aber hier wird ein falsches Bild gezeichnet. Im Moment glaubt ganz Deutschland, dass Menschen mit Tourette-Syndrom Eier in der Küche zerwerfen, dem Kumpel die Rührschüssel auf den Kopf setzen, Zitronensaft in den Ausschnitt spritzen und dabei obszöne Sprüche ausrufen. Solche Symptome gibt es aber nicht. Und die Betroffenen trauen sich heute in der Öffentlichkeit kaum noch zu sagen, dass sie Tourette haben, weil andere dann sofort nur an diese Symptome denken.
Und Sie sagen nun auch noch, es gibt eine nennenswerte Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die sich dort Symptome abgucken?
Ich würde nicht von „abgucken“ sprechen. Das ist kein bewusster Prozess, keine Simulation und kein Vortäuschen. Besser wäre, von „infizieren“ zu sprechen. Es gibt dafür im Deutschen leider nur den unschönen Begriff der „Massenhysterie“, im Englischen spricht man von „Mass Sociogenic Illness“. Das ist ein altbekanntes und gut beschriebenes Phänomen. Neu ist aber, dass es hier nicht bei Personen auftritt, die sich persönlich kennen und in engem Kontakt sind, sondern die Ausbreitung durch soziale Medien erfolgt. Und wir glauben, dass wir genau das hier zum ersten Mal nachweisen konnten. Diese Kinder und Jugendlichen identifizieren sich so stark mit dem Influencer, dass sie unbewusst die Symptome übernehmen.
Bei vielen Ausbrüchen von Massenhysterie weiß man aber auch, dass sie eine Reaktion auf reale Bedrohungen, Stressoren oder Ängste sind. Sehen Sie das hier auch?
Ja, eindeutig. Wir haben etwas mehr als dreißig dieser jungen Patienten sehr gründlich untersucht. Von denen haben rund 40 Prozent Angststörungen, weitere 40 Prozent depressive Symptome und ein kleinerer Teil autistische Züge. In allen Fällen gab es spezifische Auslöser – anstehende Operationen, Umzüge, in einem Fall auch dramatische Lockdown-Maßnahmen. Die Hälfte der Kinder hat zudem Mobbing erfahren. Es gibt also eine Prädisposition; es ist nicht so, dass gesunde und stabile Kinder eine solche Symptomatik entwickeln.
Ist es denn nicht gut, dass diese Kinder überhaupt vorstellig werden, wenn auch vielleicht mit der falschen Diagnose? Immerhin sind sie offenbar behandlungsbedürftig.
Wir sehen einen erheblichen Leidensdruck in den Familien. Wir haben hier Kinder und Jugendliche gesehen, die seit Monaten nicht mehr zur Schule gegangen sind, die von allen sozialen Pflichten entbunden wurden. Das hat erhebliche Konsequenzen. Viele sind aufgrund einer falschen Tourette-Diagnose auch schon mit verschiedenen Psychopharmaka behandelt worden. Da muss auch bei den behandelnden Kollegen erst einmal ein Problembewusstsein entstehen. Deshalb versuchen wir jetzt aufzuklären. Damit sich das Phänomen dann hoffentlich auch wieder erledigt – jedenfalls wenn unsere Theorie von der Massenhysterie stimmt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen