Tote bei Flucht aus dem Libanon: „Entweder wir oder die Politiker“
Vor der nordlibanesischen Küste kentert ein Boot mit 60 Menschen. Die Überlebenden sagen, die Küstenwache habe sie gerammt, es häufen sich Proteste.
Vor der nordlibanesischen Küste ist Samstagnacht ein Fluchtboot gekentert. 60 Menschen wollten darauf nach Italien fliehen. Mindestens neun von ihnen starben, darunter ein zweijähriges Mädchen. Das Militär gab an, 45 Menschen gerettet zu haben – einige von ihnen wurden vor Ort behandelt, andere mussten in Krankenhäuser gebracht werden. Eine Person wurde festgenommen und bezichtigt, der Fluchthelfer zu sein. Rettungskräfte suchten am Sonntag weiter nach Überlebenden.
Der Chef der libanesischen Marine, Haissam Dannaoui, sagte, das Schiff sei zehn Meter lang und drei Meter breit gewesen und damit für sechs Leute bestimmt. Es habe keine Schwimmwesten an Bord gegeben. Zwei Patrouillenboote hätten das überladene Boot verfolgt, um es zur Rückkehr aufzufordern. Das Boot hätte versucht, die beiden Marineschiffe zu überholen und wäre dabei gegen sie gestoßen, was zum Kentern führte. In einem offiziellen Statement schrieb das Militär, „hohe Wellen“ seien für den Unfall verantwortlich.
Daraufhin protestierten Familien der Angehörigen und weitere wütende Menschen in Tripoli. Die Stadt ist die zweitgrößte des Landes. 2019 gingen dort Massen von Menschen gegen die damalige libanesische Regierung auf die Straße – Tripoli wurde als „Mutter der Revolution“ bekannt. Auch diesmal kursierten in den sozialen Medien Aufrufe, in verschiedenen Regionen des Landes auf die Straße zu gehen. Menschen blockierten Straßen in Tripoli mit brennenden Autoreifen, zerstörten einen Militärstützpunkt und entfernten Poster von Politikern. Während er das Bild eines Politikers zerstörte, wurde ein junger Mann erschossen. Es kam zu Schusswechseln in der Stadt, doch wer die bewaffneten Männer waren und welchem politischen Lager sie angehören, ist unklar.
Nach dem Währungscrash wollen viele Menschen den Libanon verlassen
Der Libanon war einst ein Aufnahmeland für Geflüchtete. Nach dem armenischen Genozid vor 107 Jahren flohen viele Armenier*innen in das Land. Auch über 70 Jahre nach der Gründung Israels leben eine halbe Million palästinensische Geflüchtete noch immer in überfüllten Stadtteilen.
Mit dem Krieg in Syrien kamen 2011 mehr als eine Million Syrer*innen über die Grenze. In keinem Land kommen auf so wenige Einwohnende so viele Geflüchtete wie im Libanon. Die Lebenssituation der Geflüchteten ist oft schlecht, viele Syrer*innen leben noch immer in Camps, die als Übergangsunterkunft gedacht waren.
Doch nun ist der Libanon pleite. Die lokale Währung hat über 90 Prozent ihres Wertes verloren. Die Banken haben informelle Kapitalkontrollen verhängt, sodass die Menschen nicht an ihre Ersparnisse kommen. Benzin, Strom, Medizin und Essen sind für viele kaum mehr bezahlbar. Durch den Zusammenbruch der Wirtschaft und die Inflation möchten nun auch die Libanes*innen raus aus dem Land. Tausende, darunter Unternehmer*innen, Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen oder Student*innen haben das Land bereits verlassen.
Doch egal ob nach Dubai oder Deutschland, Visumsprozesse ziehen sich hin, brauchen viel Geld – bei armen Menschen wird der Antrag sowieso oft abgelehnt. Der Landweg – durch das kriegsgeplagte Syrien oder nach Israel, mit dem der Libanon offiziell im Krieg ist – ist keine Option. So wählen manche den papierlosen Weg über das Mittelmeer.
Geflüchtete Libanes*innen sollen rückgeführt werden
Inwiefern der Pushback dadurch motiviert war, die Außengrenzen der EU zu schützen, bleibt offen. Die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) hat mit ihrer EU4Neigboorhood-Initiative einen klaren Fokus auf den Ländern des Mittelmeerraumes. Im Oktober 2020 trafen sich der Chef der libanesischen Sicherheitsbehörde, Abbas Ibrahim, und der zypriotische Innenminister Nicos Nouris. Nach dem Treffen versprach Ibrahim: „Jede Person, die den Libanon gemäß dem mit Zypern getroffenen Abkommen verlässt, sollte in Abstimmung zwischen den beiden Ländern nach Hause zurückgebracht werden.“
Der zypriotische Innenminister sagte, die libanesische und zypriotische Polizei und die Seestreitkräfte würden Boote mit Migrant*innen abfangen, die aus dem Libanon abfahren. Er sagte, nicht nur Zypern, sondern auch der Libanon würden Frontex bei der Küstenüberwachung um Unterstützung bitten.
Die deutsche Bundeswehr trainiert innerhalb der UNIFIL-Mission die libanesische Marine zur Überwachung des Seeraums. Offiziell soll damit der Drogenschmuggel im Seeraum im Süden des Landes verhindert werden. Dabei passiert dieser Schmuggel meist auf dem Landweg, über die Grenze mit Syrien. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, besuchte den Libanon im September 2021. Dabei plädierte er für die Lieferung neuer Patrouillenboote. „Wertvolle Güter wie Öl und Benzin werden außer Landes geschmuggelt.
Ebenso geht es um Flüchtlingstransfers. Flüchtlinge aus Syrien werden durch das Land geschleust und mit Booten in Richtung Zypern gebracht. Wir haben eine ähnliche Lage wie in Libyen“, sagte Zorn. Seit Jahren steht Frontex dort in der Kritik, mit der dortigen Küstenwache bei der Rückführung von Booten mit Migrant*innen zusammenzuarbeiten.
Proteste gegen Libanons Regierungschef Najib Mikati
Der Ärger der Menschen in Tripoli richtet sich nicht nur gegen das Militär, sondern auch gegen die Regierung, die es repräsentiert. „Es sind entweder wir oder die Politiker. Ich kann mit ihnen nicht mehr in diesem Land leben“, sagte ein Überlebender in einem Video des Instagram-Kanals „Lebanon Uprising“.
Am Sonntagmorgen brachten Protestierende ein Banner an dem Zaun vor einer großen weißen Yacht an, die im französischen Nizza ankert. In roten Buchstaben steht darunter: „Der Besitzer dieser Yacht hat die Menschen in Tripoli gestern Nacht getötet“. Die weiße Yacht mit dem geschnörkelten M darauf gehört dem libanesischen Regierungschef Najib Mikati. Sein Vermögen wird von Forbes auf 2,8 Milliarden Euro geschätzt. Der Sunnit ist der reichste Mann in Tripoli, besitzt am Stadtrand eine Villa.
Nach dem Vorfall am Samstag rief er einen nationalen Trauertag aus. Dazu bat er die Bevölkerung, nicht den „Schmuggel-Gangs“ zum Opfer zu fallen, die ihre Situation ausnutzen würden. Mikati wird von der Bevölkerung bezichtigt, sein Geld durch dubiose Deals und Korruption gemacht zu haben. Während die Menschen im Libanon keinen Zugang zu ihren Konten haben, enthüllten die Pandora-Paper-Recherchen, dass der Premierminister seine Unternehmen offshore in Steueroasen registrierte.
Nachdem er im Februar den Haushaltsplan für 2022 vorgestellt hatte, sagte Mikati an die Bevölkerung gerichtet, der Staat könne nicht mehr für kostenloses Internet, Strom oder Wasser aufkommen. Dabei hatte der Libanon bereits vor der Krise die mitunter höchsten Kosten für Mobiltelefonie und Internet, tägliche Stromausfälle und stockende Wasserversorgung. Immer wieder werden Leitungen aber illegal angezapft. Menschen, die Mikati fragten, wie sie all das bezahlen sollten, da ihr Geld bei den Banken eingefroren sei, sagte der Milliardär: „Wir müssen aufeinander Rücksicht nehmen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland