Tories und Labour in Großbritannien: Die heimliche Große Koalition
Die Parteitage in Großbritannien haben gezeigt: Tories und Labour arbeiten de facto zusammen. Was unterscheidet beide Seiten eigentlich noch?
E s gibt zwei Zerrbilder der aktuellen Lage Großbritanniens. Die eine malt das Land in einer endlosen Krise: erst die negativen Folgen des Brexit, dann die Verwüstungen durch Corona, jetzt eine Versorgungskrise, in der Isolation und Inkompetenz sich gegenseitig verschärfen. Die andere entwirft ein Land in leuchtenden Farben, das Brexit und Corona erfolgreich gemeistert hat, das jetzt globale Herausforderungen angeht, und wo auf Grundlage zeitloser Werte eine neue Ära von Wohlstand und Fortschritt vor der Tür steht.
Das erste Zerrbild ist das vieler Regierungsgegner in Großbritannien und wird auch in deutschen Medien gern gepflegt. Das zweite Zerrbild ist das der Regierung von Boris Johnson.
Auf die Frage, welches dieser Bilder stimmt, lautet die kurze Antwort: Keines davon. Die aktuelle Versorgungskrise könnte Vorbote einer Wirtschaftskrise sein, und es kommen viele aktuelle Unsicherheiten zusammen. Ob die Regierung darauf die richtigen Antworten findet, lässt sich noch nicht abschließend sagen.
Die interessantere Frage ist aber ohnehin, was aus dem Vorhandensein zweier so diametral entgegengesetzter Sichtweisen folgt. Und darauf ist die Antwort ein Paradox. Denn der große Showdown zwischen Brexit-Fans und Brexit-Gegnern, zwischen Johnsons Regierung und der Opposition will sich einfach nicht einstellen. Das haben die beiden Jahresparteitage von Konservativen und Labour in den letzten beiden Wochen, die ersten seit Corona und die ersten seit Johnsons Wahlsieg, gezeigt.
Die beiden Parteiführer Keir Starmer und Boris Johnson könnten im Naturell unterschiedlicher kaum sein: Hier der Entertainer, dort der Grabredner. Aber was trennt sie denn inhaltlich? Beide wollen einen aktiven, starken Staat, beide betonen den Wert von Arbeit und Patriotismus, beide berufen sich auf das Erbe Tony Blairs.
Wenn Starmer auf Johnsons Wahlkampfparole „Get Brexit Done“ von 2019 jetzt mit der Forderung „Make Brexit Work“ entgegnet, zieht er einen Schlussstrich unter das wichtigste Streitthema der Vergangenheit. Wenn Labour den Tories eine zu lasche Verbrechensbekämpfung vorwirft und Boris Johnson Unternehmen zu höheren Löhnen auffordert, verwischen sich politische Unterschiede bis zur Unkenntlichkeit.
Großbritannien entdeckt die faktische Große Koalition just in dem Moment, in dem Deutschland sich davon verabschiedet. Und der neue London-Konsens spielt in dem Rahmen, den Boris Johnson definiert hat. Man kann das schrecklich finden oder gut. Aber so oder so ist es die Realität.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen