Tödliche Attacke in Mannheim: Hätte, müsste, könnte
Ein Polizist stirbt, als ein Mann eine Anti-Islam-Kundgebung angreift, später wird ein AfD-ler attackiert. Erwiderung auf acht populistische Thesen
Vor einer Woche griff der 25-jährige Sulaiman A. eine Kundgebung des Anti-Islam-Aktivisten Michael Stürzenberger auf dem Mannheimer Marktplatz an. Sechs Personen wurden verletzt, ein Polizist tödlich. Der Täter, der von einem anderen Polizisten niedergeschossen wurde, war bis Redaktionsschluss nicht vernehmungsfähig. Die Bundesanwaltschaft zog dennoch den Fall an sich und geht von einem „religiösen“ Motiv aus. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sieht „klare Hinweise für ein islamistisches Motiv“. Dienstagnacht wurde ebenfalls in Mannheim der AfD-Lokalpolitiker Heinrich Koch mit einem Messer angegriffen. Hier sieht die Polizei beim Tatverdächtigen „deutliche Hinweise auf eine psychische Erkrankung“.
„Der Täter hätte gestoppt werden müssen.“
Das war – nach allem, was man bisher weiß – schier unmöglich. Sulaiman A. kam 2014 als Jugendlicher nach Deutschland, sein Asylantrag wurde zunächst abgelehnt, dann bekam er einen befristeten Aufenthaltsstatus. Zuletzt lebte der 25-Jährige mit seiner Familie im hessischen Heppenheim, war gut integriert und in einem Taekwondoverein aktiv. Weder der Polizei noch dem Verfassungsschutz war er bis zur Tat aufgefallen.
SPD-Innenpolitiker Sebastian Fiedler, gelernter Polizist, betont: „Ob mit oder ohne islamistisches Tatmotiv lautet die bittere Wahrheit: Brutale Gewalttaten von bislang polizeilich unbekannten Tätern, die sich im Privaten radikalisieren, bleiben die mit Abstand größte Herausforderung für die Sicherheitsbehörden.“ Das BKA entwickelte hierfür eigens sein „Radar“-System: Anhand eines Fragebogens werden Gewaltneigungen oder soziale Bindungen eines Gefährders geprüft, um schwere Straftaten zu antizipieren. Ähnlich arbeitet das Projekt Periskop der Polizei NRW. Nur: Da Sulaiman A. nicht auffällig wurde, wäre er hier nie in eine Überprüfung geraten.
Offen ist, ob die Kundgebung besser hätte geschützt werden können. Stürzenberger zieht seit Jahren mit Anti-Islam-Kundgebungen durchs Land, immer wieder kam es dabei zu Auseinandersetzungen mit Gegendemonstranten oder der Polizei. Stürzenberger verwahrte sich in der Vergangenheit aber etwa gegen schützende Gitter um seine Kundgebungen, weil er mit Bürgern in Kontakt kommen wolle. Die Polizei Mannheim ließ bisher Fragen offen, welches Schutzkonzept sie für die Kundgebung in Mannheim vorbereitet hatte.
„Der Täter hätte Deutschland schon längst verlassen müssen.“
Tatsächlich wurde der Asylantrag von Sulaiman A. 2014 negativ beschieden. Er erhielt allerdings ein Abschiebeverbot. Ein solches wird verhängt, wenn eine Abschiebung die Europäische Menschenrechtskonvention verletzen würde oder im Zielland konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit besteht. Zuletzt hatte A. aber auch eine befristete Aufenthaltserlaubnis, wohl weil er mit einer Deutschen verheiratet ist und mit dieser zwei Kinder hat. A. war also legal in Deutschland.
„Höchste Zeit, dass wieder nach Afghanistan und Syrien abgeschoben wird.“
Ein Ende des generellen Abschiebestopps für Afghanistan hätte im Fall von Sulaiman A. nichts geändert. Auch wenn er als Gefährder eingestuft worden wäre, hätte man ihn wohl nicht zurückzwingen können, da er durch das Abschiebeverbot geschützt war. Diesen Schutz hat er weiterhin – auch nach seiner Tat und selbst dann, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), wie angekündigt, künftig wieder nach Afghanistan und Syrien abschieben lässt.
Praktisch alle Geflüchteten aus Afghanistan und auch aus Syrien erhalten so ein Abschiebeverbot, sofern sie nicht ohnehin als Flüchtling anerkannt werden oder subsidiären Schutz bekommen. Ende April waren laut Ausländerzentralregister nur 13.396 Afghan*innen und 10.026 Syrer*innen ausreisepflichtig – das heißt: ohne Aufenthaltserlaubnis und auch ohne Abschiebeverbot. Nur sie sind es, die nach Scholz’ Plänen für Abschiebungen in Betracht kämen, wenn sie als Gefährder eingestuft werden, Terror verherrlichen oder Gewalttaten begehen. Zusätzlich sind viele Personen aus dieser Gruppe aber nicht abschiebefähig, etwa wegen fehlender Papiere oder Krankheiten.
„Gewalttäter abzuschieben, kann doch gar nicht falsch sein.“
Werden sie abgeschoben, bevor sie ihre Strafe vollständig abgesessen haben, könnten Täter sogar profitieren. Grünen-Innenpolitikerin Lamya Kaddor fürchtet etwa, dass ein Täter unter den Taliban womöglich „gar keine Strafe mehr zu befürchten“ habe.
Andererseits drohen auch Menschenrechtsverstöße. „In Afghanistan gibt es keinen funktionierenden Rechtsstaat“, sagt Theresa Bergmann von Amnesty International. Hinrichtungen und Körperstrafen wie Auspeitschungen seien an der Tagesordnung. Bergmann erkennt deshalb „klar einen Völkerrechtsbruch“ in den Plänen von Scholz. „Die Menschenrechte gelten auch für Straftäter*innen.“
Ähnlich ist die Lage in Syrien. Wiebke Judith, Rechtsexpertin bei ProAsyl, sagt: „Bashar al-Assad hat einen Terrorstaat kreiert.“ Abschiebungen dorthin dürften genauso wenig zugelassen werden wie nach Afghanistan. „Die Strafverfolgung muss mit den Mitteln des deutschen Rechtsstaats erfolgen.“ Menschenrechtler*innen fürchten zudem, dass es nicht bei der Abschiebung von Gefährdern und Straftätern bleibt. Dann könnten bald auch unschuldige Afghan*innen und Syrer*innen zurückgezwungen werden.
„Ein paar Leute rauszuwerfen, kann doch nicht schwierig sein.“
Neben den menschenrechtlichen und juristischen gibt es auch praktische Hürden. Der offizielle Abschiebestopp für Syrien lief schon 2021 aus. Seitdem wurde aber trotzdem keine einzige Person dorthin gebracht – auch weil Deutschland praktisch keine Beziehungen nach Damaskus hält. Für Abschiebungen sind intensive Absprachen nötig. Ähnlich dürfte es nun im Fall Afghanistans laufen, zu dem Deutschland gar keine offiziellen Kontakte unterhält. Um das zu umgehen, will Scholz offenbar Abkommen mit Ländern wie Pakistan aushandeln, die Abzuschiebende dann nach Afghanistan bringen sollen. Ob die sich darauf einlassen werden, ist allerdings fraglich.
„Die Rechten sind die eigentlichen Opfer politischer Gewalt.“
Das behauptet die AfD – und in Mannheim wurden ja nun tatsächlich ein Anti-Islam-Aktivist und ein AfD-Lokalpolitiker angegriffen. Beide Fälle sind aber sehr unterschiedlich: Beim Angriff auf den AfD-Mann sieht die Polizei bisher kein politisches Motiv, sondern eine psychische Erkrankung. 2023 gab es zudem laut BKA und vorläufigen Zahlen die meisten politischen Straftaten gegen Vertreter der Grünen (1.219), die meisten Gewalttaten aber tatsächlich gegen die AfD (86), vor den Grünen (62). Die mit Abstand meisten politischen Delikte wurden 2023 allerdings von rechts verübt: 28.945 Straftaten, davon 1.270 Gewalttaten. „Religiös motivierte“ Straftaten, worunter islamistische fallen, wurden 1.489 gezählt, davon 90 Gewalttaten.
„Die Bundesregierung tut viel zu wenig gegen Islamismus.“
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) weist das von sich: Gegen islamistische Gefahren werde „massiv“ vorgegangen. Tatsächlich sind die für Islamismus zuständigen Abteilungen bei den Sicherheitsbehörden, trotz Fokus auf den Rechtsextremismus, weiter breit aufgestellt. 15 Anschläge wurden laut den Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren verhindert. Laut BKA im vergangenen Jahr auch 7.226 Löschersuche wegen islamistischer Inhalte an Provider gestellt, in diesem Jahr waren es bereits 7.901. Das BKA drängt aber auf eine IP-Adressspeicherung, um hier noch schneller handeln zu können – was FDP und Grüne ablehnen.
Faeser verweist zudem auf das jüngste Betätigungsverbot der Hamas in Deutschland. Oder auf die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die beinhalte, dass Antisemiten und Islamisten keinen deutschen Pass bekommen sollen – und welche ohne deutschen Pass schneller abgeschoben werden können. Sie kündigte an, dass dies künftig auch für Personen, die terroristische Taten verherrlichen, gelten soll. Und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) versprach nach Mannheim, die Sicherheitsbehörden finanziell zu stärken – zuletzt wollte er indes auch hier sparen.
Zudem beteuert das Bundesfamilienministerium, dass der Islamismus ein Schwerpunktthema im Bereich Prävention sei, etwa im Programm „Demokratie Leben“. Maßgeblich ist hier ein Kompetenznetzwerk, in dem 30 Initiativen versammelt sind, die Aussteigerprojekte oder Aufklärungen in Schulen betreiben. „Entscheidend ist doch zu klären, was mit Sulaiman A. in den zehn Jahren in Deutschland passiert ist“, sagt auch Claudia Dantschke vom Deradikalisierungsprojekt Grüner Vogel. Die Antwort auf Mannheim müsse sein, wie es die hiesige Gesellschaft schafft, Radikalisierungen zu verhindern.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
„In die Prävention wurde in der Vergangenheit durchaus einiges investiert“, sagt Dantschke. Derzeit aber sei mal wieder die weitere Förderung vieler Initiativen ungewiss. Und bis heute gebe es keinen Nachfolger für das Ende 2021 ausgelaufene Nationale Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus. „Das ist die eigentliche Katastrophe“, sagt Dantschke.
Auch der Islamwissenschaftler Michael Kiefer betont: „Deutschland unternimmt seit Jahren Beträchtliches gegen Islamismus, alle nehmen die Gefahr ernst.“ Gerade in der Prävention seien viele innovative Projekte geschaffen worden, teilweise mehr als zum Rechtsextremismus. Aber Kiefer verweist auch darauf, dass bis heute die Nachfolgegruppen der 2003 verbotenen Hizb ut-Tahrir aktiv sind, wie die „Generation Islam“ oder „Muslim Interaktiv“, die zuletzt mit „Kalifat-Demos“ für Aufsehen sorgten. „Hier wären Verbote angebracht. Aber die Gruppen wissen, wie sie sich im Graubereich bewegen.“ CDU, Grüne und FDP fordern ein Verbot auch für das Islamische Zentrum in Hamburg. Für Kiefer wäre auch wichtig, schneller gegen Propaganda auf Social-Media-Kanälen einzugreifen. „Hier müssten aber vor allem die Plattformen mehr kooperieren.“
Die CDU wirft Faeser auch vor, 2022 die Arbeit des Expertenkreis Politischer Islamismus beendet zu haben, der eine Analyse und Handlungsempfehlungen gegen Islamismus vorlegen sollte. Dieser war allerdings von Beginn an befristet. Und Kiefer, damals Teil des elfköpfigen Gremiums, sagt, eine Verlängerung hätte auch keinen weiteren Sicherheitsgewinn gebracht. „Unsere Aufgabe war ja abgearbeitet und wir waren keine Sicherheitsexperten, sondern wissenschaftliche Berater.“
„Jetzt ist auch die EM nicht mehr sicher.“
Schon vor Mannheim hatten die Sicherheitsbehörden vor einer abstrakten islamistischen Anschlagsgefahr gewarnt, die sich seit dem wieder aufgeflammten Nahostkrieg verschärft habe. Rund 471 islamistische Gefährder zählt das BKA aktuell, 101 davon in Haft, 170 im Ausland, 200 auf freiem Fuß. Die größte Gefahr wird – neben radikalisierten Einzeltätern – dem afghanischen IS-Ableger zugerechnet, dem Anschläge auch in Europa zugetraut werden.
Zuletzt schon packte die Terrorgruppe die EM auf den Titel ihres Propagandamagazins, warb für Anschläge auf das Turnier. Die Sicherheitsbehörden betonen aber, dass es bisher keine konkreten Anschlagshinweise gebe. Die Polizei wird zur EM mit Großeinsätzen im Dienst sein, es wurden Urlaubssperren verhängt. Kanzler Scholz versicherte, die Sicherheitsbehörden hätten sich sorgfältig vorbereitet – und appellierte, sich die Freude an der EM nicht nehmen zu lassen.
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