Tod des russischen Oppositionellen: Nelken für Nawalny
An spontanen Gedenkstätten legen Tausende quer durch Russland Blumen für Alexei Nawalny ab. Die Polizei durchbricht die stille Trauer – teils mit rabiaten Mitteln. Ein Vorortbericht.
Die Blumen aber sind am nächsten Tag wieder da. Frische Nelken und Rosen, rote, weiße, gelbe, mit schwarzem Band und kurzen Nachrichten. Sie liegen in Moskau und Sankt Petersburg, in Nowosibirsk und Samara, in Tscheljabinsk und Tomsk und Ulan-Ude. Sie liegen da, obwohl die Polizei die Menschen wegscheucht, obwohl sie in ihre Megafone schreit: „Weitergehen!“ Obwohl sie manche Frauen und Männer teils brutal an Armen und Beinen packt und in die am Straßenrand abgestellten Polizeitransporter schleppt. Knapp 300 Festnahmen meldet die Menschenrechtsorganisation OWD-Info am Samstagnachmittag.
„Habt keine Angst“, hat jemand mit einem blauen Edding auf ein kariertes Blatt geschrieben und dieses am Solowki-Stein in Moskau neben dem Blumenmeer hinterlassen. Gegenüber thront der ockerbräunliche Klotz der Lubjanka, der mächtigen Zentrale des russischen Geheimdienstes FSB. Früher, als der Dienst noch Tscheka und später KGB hieß, fällten die Henker hier die Urteile, die Millionen von Menschen im Gulag – angefangen von den Solowki-Inseln im Weißen Meer – das Leben nahm, auch wenn sie überlebten. Der Stein erinnert an die Opfer des Stalinismus.
Am menschenfressenden, staatlich gezüchteten Monster aus Isolation, Bestrafung und Zerstörung hat sich in Russland bis heute nichts geändert. Auch die Strafkolonie von Charp, in der Nawalny verendete – am „Syndrom des plötzlichen Todes“, wie die Stafvollzugsbeamten Nawalnys Mutter und seinem Anwalt allen Ernstes am Samstag in der Regionalhauptstadt Salechard mitteilten –, entstand zu der Zeit des Gulag.
„Ich will ihm wenigstens die letzte Ehre erweisen“, sagt eine ältere Frau mit buntem Schal am Solowki-Stein am Samstagnachmittag. Der Menschenstrom, den die Polizei durch die Unterführung an der Lubjanka leitet und dabei jeden filmt, hört nicht auf. Frauen und Männer – jung, alt, mittelalt – und selbst ganze Familien stapfen durch den matschigen Schnee, strecken sich, um ihre Blumen auf den Findling abzulegen, versuchen, kurz innezuhalten, manch einer zündet eine Kerze an. Ein Taxi hupt, ein Elektrobus rauscht die Straße entlang. „Junge Frau, nicht stehen bleiben“, brüllt ein Polizist ins Mikrofon. „Machen Sie den Weg frei“, schreit ein anderer und weist ein älteres Paar vom Stein.
„Ein Volksaufstand würde die im Kreml wecken“
Es war Nawalny, der den Menschen zeigte, was ein politisches Subjekt ausmacht. Der sie spüren ließ, was einen Menschen zu einem Bürger macht. Er verlor diesen Kampf gegen einen Staat, der selbst mit seiner Leiche ein Katz-und-Maus-Spiel veranstaltet. Ljudmila Nawalnaja, die Mutter von Nawalny, berichtet russischen Journalist*innen, wie sie von einer Institution zur nächsten geschickt wird. Wo ihr toter Sohn sich befindet, was mit ihm gemacht wird: alles unklar.
„Alexei war einer der wichtigsten Menschen, die mir geholfen haben zu glauben, dass Politik nicht der langweilige, graue, klebrige Scheiß ist, mit dem diese Anzüge im Fernsehen vollgestopft sind, sondern buchstäblich mein Leben“, schreibt eine, die Russland nach dem Überfall auf die Ukraine verlassen hatte, in ihrem Telegram-Kanal. Ein anderer, noch in Moskau, meint: „Ein Volksaufstand würde die im Kreml wecken. 100.000 Menschen müssten es wenigstens sein.“ Doch selbst dabei mitmachen? „Nee, zu gefährlich.“ Die Widerständigen, sie sind zu Hunderttausenden ins Exil gegangen. Immer repressivere Gesetze nehmen den im Land Gebliebenen die Möglichkeiten, auf die Politik einzuwirken. Es gibt kein Ventil, keine Partei, die eine Alternative sein darf. Es gibt keine Opposition.
Die parlamentarischen Pseudo-Oppositionellen nicken alles ab, ducken sich, sind Teil des Regimes. Eines Staates, der seine ganze Macht einsetzt, um Kritiker*innen verstummen zu lassen. Wie weit dieser zu gehen bereit ist, zeigte die politische Verfolgung Nawalnys. Das zeigt auch sein Tod, der nicht einfach ein Tod ist, sondern ein politischer Mord. „Nicht einmal trauern lässt man uns in Ruhe. Schau, in Amsterdam können die Menschen zusammenstehen und zusammen weinen. Und wir? Uns scheucht der Typ da mit seinem Schlagstock weg. Und wir gehen weg, natürlich“, sagt ein älterer Mann am Solowki-Stein zu einer Frau. Zwei jüngere Freundinnen, die nach dem Blumenniederlegen am Museum nebenan stehen bleiben und auf den Findling in der Ferne schauen, meinen: „Widerstand? Ohne Nawalny? Wer soll es machen? Wir haben alle nicht den Mut dafür.“
Ob ihn Julia Nawalnaja hätte oder Darja Nawalnaja, die Ehefrau oder die Tochter Nawalnys? Sie haben seine Ideen, vor allem nach Nawalnys Vergiftung und während seiner Haft in die Welt getragen, haben sich mit allem, was sie konnten, für seine Freilassung eingesetzt. Der Auftritt von Julia Nawalnaja auf der Münchner Sicherheitskonferenz, kurz nach der Mitteilung der russischen Behörden vom Tod ihres Mannes, ist so beklemmend wie beeindruckend zugleich. Sie wird für die Aufklärung seines Todes kämpfen, wie sie stets gekämpft hat. Das politische Erbe Nawalnys werden andere übernehmen müssen. Wenn sie aus der Erstarrung entkommen können.
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