Tucker-Carlson-Interview: Putin, der Antisemit

Mit Schuld- und Geschichtsverdrehungen entlarvt sich Wladimir Putin als Judenhasser. Der ultrarechte Pseudojournalist Tucker Carlson bot ihm dafür die Bühne.

Tucker Carlos und Wladimir Putin sitzen auf hellen, kitschigen Holzstüheln. Putin der Bescheidwisser spricht

Der Hobbyhistoriker Putin erklärt Tucker Carlson sein antisemitisches Weltbild Foto: Gavriil Grigorov/ap

Am 9. Februar veröffentlichte Tucker Carlson sein Interview mit Wladimir Putin. Während westliche Be­ob­ach­te­r*in­nen erneut über Putins Geschichtsmärchen und krude Verschwörungsfantasien den Kopf schüttelten, wurde der frühere Fox-News-Moderator Carlson im russischen Staatsfernsehen gefeiert. Das Interview galt als „Durchbruch der Informationsblockade“, gar als „Sieg der Wahrheit“.

Wenige Tage später bremste Putin selbst die Euphorie: In einem Interview mit dem Staatssender Rossija 1 bedauerte er heuchlerisch, dass scharfe aggressive Fragen in dem zweistündigen Gespräch ausgeblieben seien. Wichtige Themen seien dadurch nicht aufgegriffen worden.

Scharfe Fragen und wichtige Themen? Etwa Russlands unverantwortliche Atomdrohungen, enge Kontakte mit der Hamas, Kriegsverbrechen in der Ukraine oder das Schicksal von Alexej Nawalny, dessen Märtyrertod kurz danach gemeldet wurde?

Fehlanzeige! Putin ging es um die Judenpogrome im Zarenreich vor dem Ersten Weltkrieg. Über die Pogrome soll er mit Carlson erst nach dem Interview gesprochen haben.

Zarengeschichten

Carlson ersparte also seinem internationalen Publikum eine weitere Geschichtsstunde des Hobbyhistorikers aus dem Kreml – eine Geschichtsstunde, die jedoch im russischen Staatsfernsehen nachgeholt wurde. Und das war ein typisches Geschichtsreferat à la Putin – ein wirres Zusammenwürfeln von Ereignissen und Tendenzen, reich an Verzerrungen, Manipulationen und abstrusen Interpretationen: Die Judenpogrome, die nun zur Dämonisierung Russlands genutzt würden, hätten ohnehin vor allem in der Ukraine stattgefunden, während die russische Bevölkerung jüdische Opfer zu verteidigen versucht habe.

Die Tatsache, dass die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung von russischen Nationalisten organisiert, von zaristischen Behörden gebilligt und vom Zaren Nikolaus II. wohlwollend registriert wurden, blendete der Zarenreichverehrer Putin kurzerhand aus.

Mit seinen Ausführungen wollte der Kremlchef wohl den vom US-amerikanischen Department of State verbreiteten Bericht über die Kontinuität der antisemitischen Propaganda im Zarenreich, in der UdSSR und in der Russischen Föderation desavouieren. Für zahlreiche US-amerikanische Juden und Jüdinnen, deren Vorfahren Russland vor dem Ersten Weltkrieg verlassen hatten, sind die Pogrome im Zarenreich ein Teil ihrer Familiengeschichte. Und ihre Berichte davon unterscheiden sich grundsätzlich von Putins Narrativ.

Gaza als Leningrad

Die Judenpogrome im Zarenreich sind ein neues „jüdisches“ Thema für Putin. Ansonsten konzentriert er sich auf die israelische Kriegsführung, auf den nationalsozialistischen Judenmord und vor allem auf die jüdische Herkunft des ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj.

Das Verhältnis zwischen Israel und Russland hat sich nach dem russischen Überfall auf die Ukraine drastisch verschlechtert. Obschon Israel weder Waffen an die Ukraine liefert noch Sanktionen gegen Russland verhängt hat, unterstützt es politisch und diplomatisch das angegriffene Land. Die Moskauer Rhetorik über das „Kiewer Naziregime“ wird zurückgewiesen, die propagandistische Vereinnahmung des Holocausts verurteilt.

Hinzu kommen die Auswanderung etlicher russischer Re­gime­geg­ne­r*in­nen nach Israel, Russlands Kontakte mit der Hamas und dem Iran sowie eine antiisraelische, zunehmend antisemitisch gefärbte offizielle Berichterstattung über den Krieg im Nahen Osten. Dieser Krieg wird von Moskau genutzt, um die vermeintlich humane und behutsame russische Kriegsführung dem israelischen „totalen Krieg“ gegenüberzustellen. Im Umlauf sind Völkermordvorwürfe und von Putin besonders beliebte Vergleiche zwischen der nationalsozialistischen Leningrader Blockade und der israelischen Gazapolitik.

Selenskyj als „Jude“ an der Spitze der „Nazis“

Carlson scheint Putins Ziel aber durchgeschaut zu haben. Um Antisemitismusvorwürfe zu vermeiden, ließ er sich auf die Geschichten rund um Gaza und das Zarenreich nicht ein. Im Hinblick auf den Holocaust und Selenskyjs jüdische Herkunft ließ der US-Moderator sein Visavis allerdings gewähren. So machte Putin ukrainische Nationalisten für die Judenvernichtung verantwortlich und bekräftigte somit die in Russland inzwischen verbreitete Tendenz, den Judenmord in der Ukraine und im Baltikum vor allem als Projekt lokaler Kollaborateure darzustellen und die Rolle der NS-Täter herunterzuspielen.

Wolodymyr Selenskyj wird in der russischen Propaganda als Jude (und somit „Nichtukrainer“) dargestellt, der seine Vorfahren verraten habe und an der Spitze der ukrainischen „Nazis“ stehe. Putin verbreitet gerne dieses Feindbild, das ihm merklich gefällt. Im Interview mit Carlson erzählte er außerdem über Selenskyjs Vater, der gegen die Nazis als Rotarmist an der Front gekämpft habe und – im Gegensatz zu seinem Sohn – wohl ein anständiger Mensch gewesen sei. Gemeint war wohl Selenskyjs Großvater Semen: Der Vater Oleksandr kam erst 1947 auf die Welt. Der peinliche Fehler wurde jedoch in offiziellen russischen Publikationen nicht korrigiert.

Der Antisemitismus – mal subtil, mal offen – ist zu einem Bestandteil der russischen Politik und Propaganda geworden. Sein aktueller Anstieg ist zwar situationsbedingt, er spiegelt jedoch das Weltbild von Putin und seiner im spätsowjetischen KGB beruflich sozialisierten Mitstreiter wider. Im KGB waren antisemitische Vorstellungen über die „jüdische Weltherrschaft“ fest verankert, wobei der Untergang der UdSSR als eine bittere Niederlage im Kampf gegen den von „den Juden“ dominierten Westen wahrgenommen wurde.

Diese Besonderheit erklärt möglicherweise eine vorgegaukelte Judenfreundlichkeit, die Putin lange an den Tag gelegt hat. Seine philosemitische Maske ließ Wladimir Putin jedoch inzwischen fallen. Hinter ihr blickt ein antisemitisches Gesicht hervor.

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ist 1979 in Minsk geboren. Der promovierte Historiker lehrt an der Universität des Saarlandes sowie Politische Wissenschaft in Nancy. Seit Juli 2009 ist er Leiter einer deutsch-weißrussischen Forschergruppe im Rahmen des Forschungsprojektes „Behinderten-, Kranken- und Säuglingsmorde in Belarus 1941–1944“.

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