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Tod des Geflüchteten Aman AlizadaFünf Schüsse und viele Fragen

Vor einem Jahr wurde der 19-jährige Aman Alizada in Stade von einem Polizisten erschossen. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Daran gibt es viel Kritik.

Zweifel an der Version der Polizei: Im vergangenen Oktober demonstrierten rund 200 Menschen in Stade Foto: Miguel Ferraz

Hamburg taz | Als Aman Alizada am 17. August 2019 starb, war er gerade einmal 19 Jahre alt. An dem Abend wurde die Polizei zu der Unterkunft für Geflüchtete in Stade-Bützfleth gerufen, in der er lebte. Am Ende des Einsatzes war Alizada tot. Ein Polizist hatte fünf Mal auf ihn geschossen.

Das ist nun ein Jahr her. Der Tod des jungen Mannes erregte viel Aufmerksamkeit. Von Anfang an stand die Frage im Raum, warum die Polizist*innen vor Ort so reagiert haben, wie sie es getan haben, ob sie überfordert waren, warum einer auf Alizada geschossen hat. Auf einer Demonstration im Oktober hatten rund 200 Menschen Aufklärung gefordert, darunter auch der Flüchtlingsrat Niedersachsen.

Denn die Tatsache, dass der Polizist, der geschossen hatte, schnell wieder im Dienst gewesen sein soll, war für viele kein gutes Omen für eine ergebnisoffene Aufklärung. Gegen den Polizisten, der geschossen hatte, wurde wegen des Verdachts auf Totschlag ermittelt. Mitte Juni kam die zuständige Staatsanwaltschaft Stade dann zu dem Ergebnis: Es war Notwehr. Es sollte keine weiteren Ermittlungen und auch keine Anklage geben.

Daran jedoch gibt es massive Kritik von vielen Seiten. Eine dieser Seiten ist der Anwalt des Bruders von Aman Alizada. Er hat Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen eingelegt, fordert, diese wieder aufzunehmen und den Polizisten wegen Totschlags anzuklagen.

Alizada war mit 15 Jahren allein aus Afghanistan geflüchtet. Er gehörte der Minderheit der Hazara an, suchte Schutz vor Verfolgung. Die ersten zwei Jahre in Deutschland wohnte er mit 70 anderen Minderjährigen in einer Turnhalle. Kurz vor seinem 18. Geburtstag wurde sein Asylantrag abgelehnt. Er hatte psychische Probleme. Weil er mit einem Messer aufgegriffen wurde und sich für Gott gehalten haben soll, wurde er zeitweise in der geschlossenen Psychiatrie untergebracht. Er soll Anzeichen einer Schizophrenie gezeigt haben.

Keine Notwehrlage?

Am 17. August 2019 dann hat sich sein psychischer Zustand offenbar wieder verschlechtert. Aus der Beschwerde des Anwalts, die der taz vorliegt, geht hervor, dass ein Mitbewohner in seiner Vernehmung sagte, Alizada habe ihn aufgefordert, das Haus zu verlassen. Er wolle alles kaputt machen. Alizada habe eine Stange, mit der er immer Fitness machte, in der Hand gehabt. Der Mitbewohner bekam demnach Angst, rief die Polizei und verließ das Haus. Die Polizist*innen wussten offenbar, auf wen sie treffen würden, sie kamen zu viert. Alizada war wegen seiner Vorgeschichte bekannt.

Alizada soll allein in einem Raum im Erdgeschoss gewesen sein, das geht aus dem Schreiben der Staatsanwaltschaft hervor, in dem sie begründet, warum keine Anklage erhoben wird. Demnach hätte Alizada nicht auf die Aufforderung reagiert, das Haus zu verlassen und die Stange abzulegen. Die Polizist*innen hätten Pfefferspray eingesetzt. Dann soll Alizada mit der Hantelstange in Richtung der Polizist*innen gegangen sein, die mittlerweile im Haus waren, woraufhin einer schoss. Fünf Mal. Die Staatsanwaltschaft schreibt von einem Angriff, einer gefährlichen Lage – und eben Notwehr. Die einzigen Zeug*innen sind Polizist*innen.

Thomas Bliwier, der Anwalt von Aman Alizadas Bruder, zweifelt erheblich an der von der Staatsanwaltschaft beschriebenen Notwehrlage und daran, dass Alizada die Polizist*innen angegriffen haben soll. Ihm zufolge gibt es genau dafür keine objektiven Beweise, keine*r der Zeug*innen könne Angaben zum Verhalten von Alizada vor den Schüssen machen, schreibt er. Zwei Polizist*innen, die vor dem Haus waren, hätten die Situation nicht einsehen können und ein Beamter im Gebäude sei in Deckung gegangen.

Stattdessen schließen laut Bliwiers Beschwerde die Ergebnisse eines Gutachtens, das die Schüsse rekonstruiert hat, einen Angriff sogar aus. Demnach weisen die Einschüsse „darauf hin, dass sich eine Schusswaffe im Zeitpunkt der Schussabgabe im Falle aufrecht sitzender, stehender oder sich bewegender Personen ebenfalls in einer gegenüber dem Opfer erhöhten Person befunden hat“. Alizada habe also gelegen, gesessen oder sich gebückt, als auf ihn geschossen wurde und habe somit niemanden angreifen können, schlussfolgert der Anwalt.

Es entsteht der Eindruck: Die wollen gar nicht hingucken und aufarbeiten. Da sollte gar kein Hauch von Zweifeln aufkommen

Ingrid Smerdka-Arhelger, Bürgerinitiative Menschenwürde

Er wirft nicht nur der Staatsanwaltschaft vor, dies und anderes ausgeblendet zu haben, sondern erhebt auch schwere Vorwürfe gegen die Polizist*innen. Denn als sie vor Ort eintrafen, habe keine Gefahr für Dritte bestanden, niemand war mehr im Haus. Statt abzuwarten und gegebenenfalls Dolmetscher*innen oder auch psychiatrisches oder psychologisches Personal einzuschalten, hätten die Beamt*innen im weiteren Verlauf grundlos eskaliert.

Die Tür war abgeschlosssen

So zeigten Bilder vom Tatort, dass die Zimmertür abgeschlossen war, die Polizist*innen sie offenbar eingetreten haben. Damit hätten sie erst eine Situation geschaffen, in der der Polizist, der dann schoss, meinte, zu Notwehrmitteln greifen zu können. „Er selbst konstellierte eine Situation, in der er vermeintlich ‚gezwungen‘ war, Reizgas einzusetzen und von seiner Dienstwaffe tödlichen Gebrauch zu machen“, schreibt der Anwalt.

Auch der Kriminologe Thomas Feltes sagt, es habe keine Notwehr vorgelegen. Der Fall müsse vor Gericht aufgeklärt werden. Feltes weist immer wieder darauf hin, dass die meisten Opfer tödlicher Polizeischüsse psychisch kranke Menschen sind. Die Tötung Alizadas sei ein typischer Fall von falschem Umgang mit psychisch kranken Menschen, sagt er.

„Polizisten sollten wissen, dass psychisch kranke Menschen entsprechend reagieren, wenn sie unter Druck gesetzt werden – sei es durch den Einsatz von Pfefferspray oder einfaches Draufzugehen.“ Das Problem sei, dass Polizist*innen darauf trainiert seien, Situationen möglichst schnell zu lösen, anstatt zuzuwarten oder eine Lage zu beruhigen. Feltes sagt, es reiche nicht, wenn Polizist*innen in der Ausbildung etwas über den Umgang mit psychisch Kranken lernen, wenn sie 10 Jahre später erst damit konfrontiert werden.

„Es braucht eine strukturierte Fortbildung und die klare Aussage der Polizeiführung, die die Beamten dazu verpflichten, bei dem Verdacht auf eine psychische Erkrankung abzuwarten, die Lage zu sichern und einen Psychologen oder das SEK zu rufen“, sagt Feltes. Das SEK sei in der Lage jemanden festzunehmen, ohne ihn zu erschießen.

Grüne fordern unabhängige Untersuchung

Warum also haben die Polizist*innen in Stade keine Hilfe geholt? Warum dachten sie, sie müssten so schnell vorgehen, obwohl Alizada allein in einem Raum war? Diese und weitere Fragen sind für viele Menschen in Stade weiter unbeantwortet. Und deshalb fordern viele wie der Anwalt, dass der Fall nicht abgeschlossen werden darf.

So heißt es aus dem Kreisverbands Stade der Grünen, dass es nicht sein könne, dass sich die Exekutive in diesem Fall mit so vielen offenen Fragen selbst freispreche. Der Vorstand fordert eine unabhängige Untersuchung und Beurteilung des Falls. „Alles andere würde das Vertrauen in Polizei, Staatsanwaltschaft, ja in unseren Staat und unser Rechtssystem schwer beschädigen.“

Auch Ingrid Smerdka-Arhelger von der Bürgerinitiative Menschenwürde nennt die Argumente der Staatsanwaltschaft, die zur Einstellung der Ermittlungen geführt haben, skandalös. Die Bürgerinitiative setzt sich seit Jahren im Landkreis Stade für geflüchtete Menschen ein und hat auch den Fall Aman Alizada verfolgt. „Es entsteht der Eindruck: Die wollen gar nicht hingucken und aufarbeiten“, sagt Smerdka-Arhelger zur taz. „Da sollte gar kein Hauch von Zweifeln aufkommen.“

Traumatisierte Jugendliche

Von den Ehrenamtlichen vor Ort sei zu hören, dass die Jugendlichen, die Alizada kannten, traumatisiert seien und kaum über das Geschehene sprechen könnten. Die Stader Polizei habe sich auch in keinster Weise bemüht, das Geschehene mit den jungen Menschen aufzuarbeiten.

Die Polizei Stade wiederum will sich auf Anfrage der taz gar nicht zu dem Fall äußern, da dieser nun bei der Generalstaatsanwaltschaft Celle liegt. Diese muss über die Beschwerde des Anwalts entscheiden. „Die Akten werden sorgfältig geprüft“, sagt ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft. Das könne einige Zeit in Anspruch nehmen.

Freund*innen und Bekannte von Aman Alizada und andere Engagierte wollen weiterhin für Aufklärung kämpfen. Für den 22. August ist eine Demonstration in Stade geplant.

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4 Kommentare

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  • 8G
    83191 (Profil gelöscht)

    Abgesehen vom Vorgehen der Polizei ohne psychiatrisches Personal bzw. Feingefühl an so eine Situation heranzugehen, was bedenklich ist aber leider zum Standard gehört, ist in meinen Augen der Ablauf höchst fragwürdig.

    Wenn von den 2 Beamten die ins Gebäude gegangen sind der Erste versucht Reizgas zu verwenden, ohne Erfolg, und danach in Deckung geht um die Schussbahn frei zu machen weil A. mit einer schweren Waffe auf ihn zukommt (Hantelstange 7,5 kg .. ähnlich gefährlich wie ein Vorschlaghammer)...okay. Aber scheinbar hat der Gleiche Beamte Reizgas und Dienstwaffe eingesetzt während sein Kollege die ganze Zeit in Deckung sitzt und Däumchen dreht ?

    Hinzu kommen 5 Schüsse ! Das ist in einer Paniksituation verständlich, aber jmd. der in Panik jmd. anderen erschießt ist am Folgetag nicht wieder im Dienst sondern bei einer Psychologin.

    • @83191 (Profil gelöscht):

      Unabhängig davon, ob der Einsatz gerechtfertigt war oder nicht - da gilt es andere Indizien zur Aufklärung heranzuziehen.

      Die Abgabe von fünf Schüssen sind nicht als Beleg für eine Paniksituation zu interpretieren. Dies ist vielmehr Teil des üblichen Prozedere, welches in allen Ausbildungsbüchern der Polizei bundesweit steht. Für den Schützen bedeutsam ist demnach ausschließlich die sog. "Mannstoppwirkung", d.h. die Menge an Bewegungsenergie, die durch Beschuss an den Getroffenen abgegeben wird. Selbst ein gezielter Schuss direkt ins Herz lässt dem Getroffenen (nach obj. Schätzungen) noch rund zehn Sekunden Handlungszeit, bis der Organismus zusammenbricht. Bei Schüssen in die Beine, Bauch, Brust entsprechend länger. Aus diesem Grund wird Polizisten in der Ausbildung beigebracht, erst dann den Beschuss einzustellen, wenn der Erfolg sichtbar eingetreten ist, d.h. der Getroffene sichtbar handlungsunfähig ist.



      Deshalb liest man bei Berichten aus den USA zumeist von vielfachen Treffern - dort wird den Polizisten beigebracht: "Du hörst erst auf zu schießen, wenn dein Magazin leer ist!"

      • 8G
        83191 (Profil gelöscht)
        @Cerberus:

        Vielen Dank für die Korrektur. Die "Mannstoppwirkung" habe ich bisher anders verstanden. Aber auch beim Militär gibt es ältere Ausbildungen nach denen ein Kontrahent erst nach dem 3. Treffer mit einem Sturmgewehr als "ausgeschaltet" zu werten ist.

  • Leider (leider!) mal wieder typisch.

    Solange die Tateinheit zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft sich weigert, solche Dinge aufzuarbeiten ist denen wirklich nicht zu trauen.

    Dabei geht es mir nicht einmal darum, einen einzelnen Polizisten zu "grillen". In der Haut des Todesschützen möchte ich nicht stecken: dass er gleich darauf wieder Dienst tun "darf" ist nur ein Zeichen der Verachtung des Polizeisystems für seine Person.

    Ich bin da voll bei Frau Smerdka-Arhelger: Aufarbeitung scheint hier seitens der Staatsanwalt ungewollt zu sein. Die tun ihren verdammten Job nicht.