Tiervideos in Social Media: Grausame Mood-Booster

Kaum etwas kommt im Netz so gut an, wie Tiervideos. Ab wann wird aus süßen Inszenierungen Tierquälerei?

Ein Affe mit rotem Gesicht schüttelt Wasser von sich ab

Immer wieder werden Makaken für Likes missbraucht Foto: Robert Harding/imago

Zwei Äffchen gehen Hand in Hand auf ihren Hinterbeinen, sie tragen eine Schuluniform, einen Ranzen auf dem Rücken, bunte Sneaker an den Füßen. „My kids going to school together“, steht darunter. Ein leises Empfinden von Niedlichkeit macht sich breit, doch gleichzeitig ein gewisses Unbehagen: Muss das wirklich sein?

Selten offenbart sich ein moralisches Paradox so deutlich wie bei Tier-Content auf Social Media. Der Mensch ist entzückt von süßen Tierbabys, von kuscheligen Kätzchen, die Purzelbäume schlagen, oder vom stolzen Goldie, der seine neuesten Tricks vorführt. Doch dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Unterhaltung und Grausamkeit.

In den vergangenen Wochen rückten die Makaken, eine Primatengattung eng verwandter Affenarten, die vorwiegend in Asien leben, in die mediale Aufmerksamkeit. Anstoß dafür war der Bericht „Das Leiden von Makaken für Social-Media-Content“ der Social Media Animal Cruelty Coalition (SMACC), einem Verbund, dem 20 Tierschutzorganisationen weltweit angehören und der gegen Online-Tierquälerei vorgehen will. Untersucht wurden 1.266 Videos auf Facebook, Instagram, Youtube und Tiktok. Sie zeigen Äffchen, die wie Puppen in Kleider gesteckt, mit Wasser und Seife gebadet oder wie Menschenbabys mit der Flasche gefüttert werden. Aber auch sexueller Missbrauch, scheinbare Betäubungen und andere brutale Praktiken bis zur Tötung sind zu sehen. Manche Affen machen den Anschein, als stünden sie unter Drogen. Trotzdem werden die Inhalte millionenfach angesehen, geteilt und gelikt.

Wie viel Spaß haben die Tiere?

Dass der Mensch von Tierbildern fasziniert ist, ist nichts Neues. Ganz im Gegenteil, sagt Mieke Roscher. Die Dozentin für Human-Animal-Studies an der Uni Kassel forscht zu interspezifischen Praktiken und deren historischem Wandel. Tier-Inhalte auf Social Media seien lediglich eine Erweiterung dessen, was es schon immer gab, nämlich „dass wir über die Bildnisse von Tieren das Menschliche ausdrücken wollen“. Das könne man bis in die Steinzeit zurückverfolgen: „Das erste Bild, das die Höhlenmalerei darstellt, ist ein Tier. Auch aus dem Mittelalter kennen wir vermehrt Tierdarstellungen“, sagt die Forscherin. Doch im Unterschied zu damals müssen für den heutigen Tier-Content reale Lebewesen vor die Kamera treten. Wobei oft unklar ist, ob das Tier genauso viel Spaß an der Sache hat wie der filmende oder schauende Mensch.

„Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen“, so der erste Artikel des Tierschutzgesetzes. Kritisch wird das vor allem dann, wenn Tiere für irgendwelche Challenges missbraucht werden – wenn auch hier das Leid oft subtil und nicht sofort erkennbar ist. Sind Likes auf Tiktok ein vernünftiger Grund, um Kühe mit lauten „Kulikitaka“-Rufen, angelehnt an das Lied des karibischen Musikers Toño Rosario, zu erschrecken? Oder um eine Katze am Hals zu packen, in die Luft zu heben und im Kreis herumzuwirbeln, während im Hintergrund die herzzerreißenden Klänge von Taylor Swifts Song „August“ laufen? Rechtfertigen Likes die #barkatyourdog-Challenge, bei der Hun­de­be­sit­ze­r:in­nen ihre Vierbeiner anbellen, sie durch schnelle, unkontrollierte, plötzliche Bewegungen erschrecken und offensichtlich in Angstzustände versetzen?

Die Liste an Beispielen für Trends und Challenges ist lang, der Widerspruch bleibt der gleiche: Manche Menschen lassen ihre vermeintlich besten Freun­d:in­nen für mehr Reichweite in den sozialen Netzwerken leiden. Und andere Menschen schauen ihnen dabei gerne zu. Wiebke Plasse von der Welttierschutzgesellschaft, die als einzige deutsche Organisation der SMACC angehört, sieht darin nicht unbedingt eine Boshaftigkeit von Seiten der Halter:innen, sondern viel mehr eine „Ignoranz und eine blanke Unwissenheit über die Bedürfnisse und Empfindungen der Tiere und vor allem ihr Kommunikations- und Ausdrucksverhalten“.

Mitgefühl für wen?

Besonders fragt sich die Tierschützerin, wann und wo das menschliche Mitgefühl für Tierleid verloren gegangen sei. „Kinder lernen in farbenfrohen Bauernhof-Welten oder über Streichelzoo-Besuche Tiere lieben. Gleichwohl entfremden sie sich mit jedem Tag von den Tieren – wir streicheln Hund, Katze, Pferd und schlachten Rind, Schwein und Co. Warum verteilt sich unser Mitgefühl hier unterschiedlich?“

Der britische Kunsttheoretiker John Berger beschrieb bereits 1981 in seinem Essay „Warum sehen wir Tiere an?“ diesen ihm zufolge immer schon dagewesenen Dualismus im Umgang mit Tieren: „Sie wurden unterworfen und verehrt, gezüchtet und geopfert.“ So habe ein Bauer etwa sein Schwein gern und freue sich doch, dessen Fleisch einzupökeln.

Die Zahl an Ve­ge­ta­rie­r:in­nen steigt: 8,12 Millionen sind es derzeit in Deutschland, 220.000 mehr als im vorigen Jahr. Etwa eineinhalb Millionen Menschen verzichten sogar auf jegliche Produkte tierischer Herkunft. Die Menschen behüten ihre Haustiere mit allen Mitteln, lassen sie im Krankheitsfall operieren und betrauern ihren Tod wie den eines engen Verwandten. Und trotzdem: 12.054.378.907 – so oft wurden die von der SMACC untersuchten Makaken-Videos aufgerufen. Faszination und Mitleid liegen manchmal nah beieinander.

Laut Plasse müsse in der gesamten Thematik deutlich unterschieden werden zwischen Inhalten, die zur Reichweiten-Gewinnung und Unterhaltung erstellt werden und jenen, die informativen und dokumentarischen Zwecken dienen. Manche Videos geben hilfreiche Tipps zur artgerechten Haltung von Tieren oder erläutern Tierschutzproblematiken. Auch finden sich viele Tierfotos und -videos, für die kein Lebewesen leiden musste, die tatsächlich einfach nur niedlich sind – nicht mehr und nicht weniger.

Respektloser Umgang

Forschende der University of Leeds erkannten in solchen Inhalten sogar einen gesundheitlichen Nutzen: Das Anschauen von süßen Tieren, egal ob auf Fotos oder in Videos, soll das Stressniveau um bis zu 50 Prozent absenken. Der Blutdruck der für die Studie untersuchten Personen fiel genauso wie deren Angstzustände, die allgemeine Stimmung stieg hingegen an. In krisengebeutelten Zeiten wie der heutigen sind solche Inhalte leicht zugängliche, kostenfreie und gesundheitlich unbedenkliche Mood-Booster.

Die Professorin Roscher erkennt noch weiteres Potenzial: „Auf Instagram oder Twitter hat die Scheu, Hass gegenüber anderen zu verbreiten, enorm abgenommen. Doch bei Bildern von Tieren begibt man sich in eine Art hassfreien Raum, denn unter dem Bild eines süßen kleinen Häschens stehen keine Hasskommentare“, sagt sie. Diesen Raum zurückzugewinnen, der so dominiert ist von Hass und Hetze, das gelinge am ehesten über Tierbilder.

Doch bei Videos, die einen respektlosen Umgang mit Tieren abbilden, appelliert die Tierschützerin Plasse für einen Hinweis in Form eines „Disclaimers“. Ist das Tierleid eindeutig erkennbar, etwa in Form von Gewalt oder Missbrauch, oder ist der hinreichende Verdacht auf Tierleid gegeben, geht sie noch einen Schritt weiter: „Die Moderationsteams müssen diese Inhalte löschen und die entsprechenden Erstellenden sperren sowie bei der Strafverfolgung unterstützen, indem sie relevante Informationen mit den Behörden teilen.“

Doch in erster Linie müssten Tiere „als fühlende Wesen mit Bedürfnissen und Schmerzempfinden wahrgenommen und respektvoll behandelt werden“. Erst dann könne Tierleid nachhaltig verhindert werden.

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