Tierischer Protest: Dann beginnt das Ferkel zu tropfen
Über hundert Aktivisten halten am Brandenburger Tor tote Schweine und Hühner in den Händen, um für die Gleichbehandlung von Tieren und deren Recht auf Leben. zu demonstrieren.
Erst schaut die junge Frau mit Zopf wie die anderen Aktivisten ernst Richtung Horizont, dann wandert ihr Blick doch hinunter zu dem, was in ihren Händen liegt. Ein winziges totes Ferkel. Es passt ganz in die zu einer Schale geformten Handflächen. Nur der rosa Schwanz baumelt hinunter. Die Augen hat es geschlossen. Als sei es direkt nach der Geburt gestorben. Vielleicht wurde es erdrückt. Das Ferkel fühlt sich kalt an.
Wie die Frau stehen am Dienstagmittag über hundert Menschen in schwarzen T-Shirts in einer Dreiecksformation vor dem Brandenburger Tor. Es sind Aktivisten der Organisation „Animal Equality“, die mit einer schauerlichen Mahnwache für das Recht der Tiere auf Leben demonstrieren. Alle halten steife, mehr oder weniger versehrte Körper vor sich in den Händen: Hennen, Fische, Ferkel, Küken, Lämmer.
Die haben sie in den vergangenen Wochen aus Kadavertonnen von Bauernhöfen geholt, erzählt Sprecher Martin Meingast. „Wir haben sie sauber gemacht und in die Tiefkühltruhe gelegt.“ Drei große Gefrierschränke seien nötig gewesen, sagt Meingast. Vor diesen „unsichtbaren Opfern des Konsums“, wie sie sie nennen, soll heute niemand die Augen verschließen können.
Die Denkweise der Tierrechtler ist folgende: Menschen und Tiere sind ihrer Meinung nach als Lebewesen gleichwertig. Die Gesellschaft stellt die Menschen jedoch über die Tiere, weswegen die Tierrechtler ihr „Speziezismus“ vorwerfen – in Anklang an Rassismus und Sexismus. Auch Sklaven und Frauen seien früher als minderwertige Wesen betrachtet und ausgebeutet worden. Heute treffe das auf die Tiere zu, so ihre These.
„Chicken McNuggets!“
Animal Equality gehört zu den moderateren Tierrechtsorganisationen. Zivilen Ungehorsam finden sie in Ordnung, illegale Aktionen lehnen sie weitgehend ab. Vor allem junge Menschen beteiligen sich am Dienstag an der Mahnwache. Viele haben Piercings und kleine Tätowierungen. Die meisten tragen Turnschuhe.
Die Mahnwache dauert. 20 Minuten, 30 Minuten, 40 Minuten. Ein Besucherpaar aus Schweinfurt beobachtet interessiert das Geschehen. Die Frau sagt, sie würden jetzt versuchen, noch weniger Fleisch zu essen, nur ein Mal die Woche. Schlachteplatten gebe es sowieso höchstens zweimal im Jahr, ergänzt ihr Mann. Hinter ihnen laufen andere Touristen vorbei. Eine zeigt auf die toten Tiere. „Schaut mal, Chicken McNuggets“, ruft sie. Glucksendes Gelächter.
Für die Aktivisten ist es offensichtlich anstrengend, die Körper so lange zu halten. Und zu sehen. Nach und nach brechen einzelne in Tränen aus. Ein Ferkel beginnt zu tropfen.
Nach über einer Dreiviertelstunde werden die Tiere den Demonstranten wieder aus den Händen genommen. Die Frau mit dem Zopf schaut ihrem Ferkel hinterher. Es wird später zu einer Tierbeseitigungsfirma gebracht, weil das so vorgeschrieben ist. Die Frau zittert vor Kälte und Anstrengung. „Das Ferkel war klein, es war kalt, es war tot. Genau das Gegenteil von dem, was es sein sollte“, sagt sie.
Nebenan, im Restaurant vom Hotel Adlon, setzen sich die Gäste zum Business Lunch. Es gibt Schweinemedaillons.
ANTJE LANG-LENDORFF
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