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Thomas Heise über seinen Berlinale-Film„Der Osten ist ein Pickel“

Mit „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ erzählt Thomas Heise anhand von Briefen seiner bekannten Eltern eine Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert.

Still aus Thomas Heises „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ Foto: Ma.ja.de/Berlinale 2019
Interview von Barbara Wurm

Es hätte viele Orte gegeben, an denen das Gespräch mit Thomas Heise stattfinden hätte können. Orte, die in seinem neuen Film „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ (Forum) eine zentrale Rolle spielen, wie Wien, Zerbst oder das Ostkreuz in Berlin. Geworden ist es ein Stück Bohème-Heimat, Ostberlin, Ecke Schönhauser. Wir sprechen über seine ersten Drehs 1987 mit Heiner Müller (auf VHS) und über auf 35 mm gedrehtes Material vom Abriss des Palasts der Republik, das er gern zur Eröffnung des Schlosses auf dasselbe projizieren würde. Sein Humor ist ernst, sein Deutschlandbild westkritisch, seine Filmarchäologie legendär: Das Material zu „Heimat …“ entstammt 40 privaten Aktenordnern, umspannt 100 Jahre, läuft 218 Minuten und macht das „Fließen der Geschichte“ sichtbar.

taz: Gab es einen konkreten Ausgangspunkt für diesen Film, der vom Schulaufsatz des Wilhelm Heise 1912 bis ins Jahr 2014 reicht, dem Jahr als Rosemarie Heise (Thomas Heises Mutter, Anm. d. Red.) starb?

Thomas Heise: Vielleicht eine innere Logik, aber keinen Ausgangspunkt. Ich wusste, dass ich das mache. Und zwar schon immer. Ich hatte das ganze Material – Briefe, Tagebucheinträge, Notizen, Aufsätze – es lag bei mir in Kisten.

Und ab wann haben Sie sich an die Kisten gemacht?

Die Idee zu dem Film gab es schon ganz früh. Das Ausgangsmaterial entstammt den Aufnahmen zum „Berlin 24“-Projekt aus dem Jahr 2009. Ich hab mir damals schon bewusst das Ostkreuz gesucht, gedreht, weggepackt, weggelegt – für diesen Film jetzt. Dann kam mein Film-„Material“, wo wieder etwas übrig blieb. Dann muss man eine Zeit abwarten. Bis das Datum wieder geht. Man ist abhängig von den Fernsehsendern, die nur in der Gegenwart denken. Die leben ohne Blick zurück, da gibt es nur die ZDF-History-Scheiße, anderes gibt’s da nicht.

Der „Anlass“ war also 30 Jahre Wende beziehungsweise Wiedervereinigung?

Zumindest unbewusst. Nur Heiner Müller ist ein gesamtdeutsche Figur, der Wolfgang Heise (Thomas Heises Vater, Anm. d. Red.) oder der Wilhelm Heise (Thomas Heises Großvater, Anm. d. Red.) sind Übergangsfiguren.

Gab es die Gefahr, dass es zu privat wird?

Bild: Sebastian Wells
Im Interview: Thomas

63, ist Dokumentarfilmer, Autor und Theaterregisseur. Er drehte zuletzt „Gegenwart“ (2012) und „Städte­bewohner“ (2014), und er ist der Sohn des Philosophieprofessors Wolfgang Heise und der Literaturwissenschaftlerin Rosemarie Heise.

Das habe ich gedacht, ob ich da was ans Tageslicht zerre, was vielleicht nicht geht. Aber natürlich weiß ich ja durch diese Briefe und die Arbeit mehr von meinen Eltern und Großeltern, als ich so je von ihnen erfahren habe und erfahren konnte. Das ist ein anderes Kennenlernen. Mir geht es da nicht viel anders als dem Zuschauer.

Sie lesen diese Briefe selbst vor.

Was wir da aufgenommen haben, entstand immer dann, wenn grad wieder ein Brief dran war oder ein Stück. Das ist schnell gelesen, ohne Probe. Eigentlich war geplant, eine Sprecherin zu haben. Aber nicht, weil das nicht funktionierte, sondern weil es anders nicht funktionierte, haben wir es gelassen. Man hört beim Lesen auch die Schnitte. Das ist ziemlich roh. Diese Rohheit ist aber gut. Denn wenn das so eine Perfektion kriegt, wird es langweilig, man kann es platt bügeln. Dann sieht es am Ende so aus wie History-TV.

Was hier einzigartig ist als Versuch, die große Historie im Kleinen zu erzählen, ist nicht nur die Verschränktheit der deutschen Geschichte als Vorkriegs-/Nachkriegs-Geschichte/n, sondern auch, dass jede Generation von ihrer ganz eigenen „Austreibung des Geistes“ durch die Systeme erzählt.

Immer. Die ganze Zeit! Richtig. Das schreibt der 14-jährige Wilhelm Heise ja zu Beginn in seinem Schulaufsatz. Dass es genau darum geht: Die Untertanen haben keine Ahnung davon, was der Hintergrund ist, was sie da leben. An der Stelle, wo du anfängst dagegen zu arbeiten, egal unter welchem Regime, gibt es was auf die Mütze.

Ist es Zufall, dass mit Andreas Goldsteins „Der Funktionär“ (über den Vater Klaus Gysi) und Ihrem Film zwei zentrale Filme „über die DDR“ gerade jetzt entstehen?

Äußerlich mag das ein Zufall sein, aber das liegt im Moment in der Luft. Das hat natürlich mit der fehlenden Aussicht zu tun.

Aber die Aussicht war doch schon die letzten Jahre auch nicht so richtig toll.

Ja, aber man könnte sagen, es verdichtet sich und würgt einem die Luft ab. Da fallen einem dann solche Sachen ein. Da besteht ein Bedürfnis. Es ist natürlich auch so, dass diese DDR-Geschichte so erst nach der Wende entdeckt wurde, als vorhandenes Problem. Das kann ja auch interessant sein, nämlich wenn es Konsequenzen hat und sich etwas ändert.

Da glauben Sie dran?

Da glaub ich natürlich nicht dran. Aber es wäre eine Möglichkeit, sich da dran zu hängen.

Ist die DDR überhaupt heute ein Thema?

Das ist ein Thema. Das ist genau der Punkt: Es wurde nur behauptet, es sei eben gar kein Thema. Jetzt spüren wir die Ergebnisse dieser Vereinigung deutlicher und merken, dass auch die Geschichte komplett verschwunden ist. Wenn es um die Betrachtung von Geschichte geht, geht die linear bis zur Bundesrepublik und der Osten ist daran ein Pickel. Den drückt man aus. Nur der Mauerfall ist interessant. Heiner Müller beschrieb das so – im Rahmen der Modernisierung müssen die unproduktiven Teile abgestoßen werden. Ein bisschen erzählt der Film das auch. Da geht es um Dinge, bei denen ich sicher bin, dass sich viele gar nicht vorstellen können, womit die in der DDR sich so befasst haben. Allein, dass man Borges liest mit einer Selbstverständlichkeit.

Heiner Müllers Text aus dem Jahr 1992, veröffentlicht in der Frankfurter Rundschau, ist der dramaturgische Höhepunkt am Ende des Films.

So einen Brocken wie diesen Text kann ich ja nicht an den Anfang setzen, da hört keiner mehr zu. Am Schluss ist die Aufmerksamkeit so hoch, dass man an diesem wirklich schweren Text ganz dran ist. Bei dieser „Glosse zum deutschen Augenblick“ muss man eigentlich fassungslos sein, dass dieser Text in der Zeitung stand und offenbar nicht beachtet wurde. Ich hoffe, dass das funktioniert. Man kriegt da so eine Wachheit auf einmal. Das ist auch bei dem Brief zum Selbstmord von Inge Müller so, wo die Bilder über den Pariser Platz gehen. Auch dass diese Bekanntschaft oder Freundschaft den Tod als Voraussetzung hat. Das sind so Vorgänge, wo man sagt: Entschuldigung, aber wer denkt sich das bitte schön aus?

War das ein Problem: Wer von den Personen bekannter und weniger bekannt ist?

Danach ist der Film ja nicht sortiert. Der spricht nach den persönlichen Zeugnissen. Über Inge Müller wird ja was erzählt, über den Brief von meiner Mutter Rosemarie. Das ist ein toller Brief. Es gab Texte, die sprachlos machen. Auch dieser Abschieds-Liebesbrief an meinen Vater. Im ganz Profanen taucht da plötzlich etwas unglaublich Poetisches auf und man weiß gar nicht, wie man damit umgehen soll. Das ist das Schöne am dokumentarischen Arbeiten. Oder Christa Wolfs Karte zur Wende.

Es gab also nie die Versuchung, einen eigenen Off-Text zu schreiben?

Wenn ich selbst einen Text in einen Film hineinschreibe, dann nur, wenn es unumgänglich ist. Ich habe da überhaupt kein Bedürfnis. Ich bin ja auch kein Literat oder so irgendwas.

Termine

9. 2., 16 Uhr, Delphi Filmpalast, 12. 2., 19.30 Uhr, CinemaxX 4, 15. 2., 15 Uhr Kino Arsenal 1, 17. 2. 17 Uhr

Jede Epoche hat – das fällt bei den Briefen auf, die sich durch das gesamte 20. Jahrhundert ziehen – ihre Sprache, aber auch ihre Mentalitäten.

Dieser Brief des Großvaters Wilhelm mit 20 an Edith, aus Tirol, wo er irgendwelche Mädels kennengelernt hat auf einer Art Hüttenparty in einer Skibude. Da haben die gefeiert und meinten, „Grüß mal die Schwester“ – eine Schnapsidee, aber sie hat Edith letzten Endes das Leben gerettet, weil sie einen Kommunisten heiratete in Berlin. Das kann man sich nicht ausdenken.

Das Kapitel zum allmählichen Abtransport von Ediths jüdischer Familie aus Wien ist eines der stärksten Kapitel der Filmgeschichte zur Schoah.

Es war klar, dass ich diese Briefe aus Wien nicht über Bilder der Stadt legen kann. Ich hatte mir die Deportationslisten bestellt, sie wurden immer mehr. Am Ende waren das viele Seiten und 22 Minuten. Dann Schwarzbild. Marika Rökk. Dann die zehn Haufen in Zerbst. Wahnsinn! – Im Grunde genommen steht hier das 21. Jahrhundert neben einer Kaserne aus der Nazizeit. Die ist so ein Fremdkörper in der Landschaft. Das fand ich interessant, dass hier Historie und Science-Fiction in eins geht.

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