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Thierry Noir über Kunst an der Mauer„Eine Mutation der Kultur“

Thierry Noir malte unter Gefahr Gesichter mit großen Mündern auf die Berliner Mauer. Heute malt er auch, um vor neuen Grenzen zu warnen.

Die großen, aus dem Gesicht hervorragenden Münder sind das Markenzeichen von Thierry Noir Foto: Wolfgang Borrs
Interview von Thomas Winkler

Thierry Noir will sich am Leipziger Platz treffen. Dort stehen, verteilt in der Touristenhölle, insgesamt sechs Mauersegmente. Auf allen die berühmten Köpfe, die er einst gemalt hat. Vor ein paar Monaten hat er sie renoviert. Es war seine eigene Idee und gar nicht einfach, die Genehmigung vom Denkmalschutz zu bekommen: „Ich musste Druck machen und mich bis zum Chef durchtelefonieren.“ Am Ende durften er und Kiddy Citny ihre Gemälde wiederherstellen. Die Farbe haben sie selbst bezahlt.

taz am wochenende: Herr Noir, Sie kommen gerade aus London zurück?

Thierry Noir: Ja, genau, ich war in London. Da bemale ich für das Imperial War Museum ein Stück Mauer. Zusammen mit Stik, der malt schwarz-weiße Figuren mit ganz langen Beinen. Die sind sehr markant, sieht man überall in Berlin und London. Wir kennen uns schon seit sechs Jahren.

Wie geht es Ihnen, wenn Sie in London wieder ein Stück Mauer bemalen?

Es ist eine Hommage an die alte Zeit. Es ist anders. Früher haben wir die Mauer bemalt, damit sie irgendwann verschwindet. Heute bemalen wir sie, um sie zu erhalten. Das mag absurd sein, ist aber ein Muss für mich.

Warum?

Ich will der jungen Generation, denen, die damals noch gar nicht geboren waren, zeigen, was die Mauer war. Die Mauer war schließlich kein Kunstprojekt, sondern eine tödliche Grenze. Ich will den jungen Leuten sagen: Bitte, wiederholt nicht die Fehler eurer Eltern! Ich will keine großen Sprüche klopfen, aber das ist meine kleine Botschaft. Und in London ziehen sie ja auch Vergleiche zwischen damals und heute, zum Brexit. Wenn ich da male, erzählen sie mir: Wir ziehen jetzt eine neue Mauer hoch. Damals haben wir doch geglaubt: Jetzt ist der Kalte Krieg zu Ende, jetzt wird alles besser. Stattdessen gibt es heute viel mehr Mauern als vor 30 Jahren.

Was fühlen Sie heute, wenn Sie ein Stück Mauer bemalen?

Das Adrenalin ist nicht mehr dabei. Das war damals natürlich ganz anders. Da musste man sich ständig fragen: Wo stehen die Grenzpolizisten? Hört man etwas von der anderen Seite? Eigentlich war das ja lebensgefährlich. Denn die Mauer stand ja nicht direkt auf der Grenze, sondern war fünf Meter zurück gebaut. Beim Malen der Mauer war ich offiziell in Ostberlin.

Sie haben fünf Jahre lang die Mauer bemalt …

Ja, fast täglich, das hing vom Wetter ab. Von 1984 bis 1989 vom Westen aus. Und nach 89 von der anderen Seite.

Sie sind trotzdem nie verhaftet worden.

Im Interview: Thierry Noir

Die Mauer

Am Montag, den 16. April 1984, um ungefähr 5.30 Uhr morgens bemalte Thierry Noir in Kreuzberg zum ersten Mal die Berliner Mauer. „Es war Vollmond“, erinnert sich der Maler. Als fünf Jahre später die Mauer fiel, hatte Noir zusammen mit seinen Mitstreitern Christophe-Emmanuel Bouchet und Kiddy Citny mehrere Kilometer der Grenzbefestigung umgestaltet. Bis heute sind es vor allem seine prägnanten bunten Comic-Köpfe mit aufgeblasenen Lippen, millionenfach von Touristen geknipst und von Wim Wenders in „Der Himmel über Berlin“ auf der großen Leinwand verewigt, die das Bild von der Berliner Mauer prägen.

Der Mann

Als der 1958 in Lyon geborene Noir – inspiriert von den Songs von David Bowie und Lou Reed – 1982 nach Berlin zog, kam er in dem alternativen Wohnprojekt im Georg-von-Rauch-Haus unter – und blieb 20 Jahre. Direkt hinter dem ehemaligen Bethanien-Krankenhaus, dem Ton Steine Scherben schon 1972 im „Rauch-Haus-Song“ ein Denkmal gesetzt hatten, verlief die Grenze zwischen Ost und West. Fünf Jahre lang bemalte der Autodidakt die grauen Betonsegmente und wurde so zu einem der berühmtesten Street-Art-Künstler der Welt.

Nein, ich war ja auch noch jung damals und schneller, die fünf Meter hätte ich immer hüpfen können. Meistens haben wir auch in Kreuzberg gemalt, wo wir wussten, dass die Gefahr gering war. Am Checkpoint Charlie zum Beispiel, wo es viel mehr Grenzpolizisten gab, haben wir nur einmal gemalt, das war 1986.

Sie kamen nie in eine wirklich schwierige Situation?

Doch, ein Mal. Da waren wir mit dem Fernsehen unterwegs, die wollten was richtig Spektakuläres filmen. Wir hatten schon mal Schuhe an die Mauer genagelt. Und ein Pissoir hatten wir auch dran gedübelt, eine Hommage an Marcel Duchamp. Diesmal wollten wir gleich eine Tür an die Mauer schrauben. Aber da sind wir zu weit gegangen. Die Grenzpolizisten haben gesagt: Schluss mit lustig! Wir hatten gerade angefangen, die Löcher mit der Bohrmaschine in die Mauer zu bohren, da sind sie plötzlich mit Kalaschnikows über die Mauer gekommen. Wir sind schnell weggerannt, aber die Scheinwerfer gingen an, immer mehr Soldaten kamen in Lkws angefahren, ein großes Chaos. Wir dachten schon, wir haben den Dritten Weltkrieg ausgelöst.

Zum Glück nicht.

Ja, ein Glück. Schlussendlich haben die dann nur die Tür über die Mauer gehievt und auf der Ostseite auf den Boden fallen lassen. Das hat einen ziemlichen Krach gemacht.

Sie haben damals die Mauer bemalt, weil Sie den Anblick nicht ertragen konnten. Warum haben Sie Westberlin denn nicht einfach wieder verlassen?

Das wäre zu einfach gewesen. Es gab die sogenannte Berliner Krankheit, an der Westberliner litten, die Westberlin nie verlassen haben. In Kreuzberg lebte die zweite, noch extremere Kategorie: Die haben Kreuzberg nie verlassen. Es war schon seltsam: Die Mauer war brutal. Sie war hart, viele haben gelitten, haben Drogen genommen. An dieser Melancholie, dieser Tristesse, die sich wie ein Kaugummi zieht, war auch die Mauer schuld. Trotzdem wollten wir nicht raus. Nach Schöneberg zu fahren, das kam uns schon vor wie eine Weltreise.

Sie lebten damals direkt an der Mauer. Was wussten Sie vom Leben auf der anderen Seite?

Früher haben wir die Mauer bemalt, damit sie irgendwann verschwindet. Heute bemalen wir sie, um sie zu erhalten. Das mag absurd sein, ist aber ein Muss für mich.

Nicht viel. Ich wusste, dass Kaninchen auf dem Potsdamer Platz lebten, die konnte man von der Aussichtsplattform aus sehen. Nicht ein oder zwei, es waren Hunderte Kaninchen, genauso grau wie der Sand auf dem Potsdamer Platz. Das war eine Mutation der Natur, denn so viel Natur sieht man sonst nicht mitten in der Stadt. Und wir waren eine Mutation der Kultur, denn so viel Malerei – 300, 500 Meter bunte Köpfe am Stück – sieht man sonst nicht mitten in einer Stadt. Das hat mich inspiriert, immer weiter zu malen – nur für die Kaninchen

Warum empfanden Sie die Mauer als so bedrückend? Ich habe damals auch in Westberlin gelebt, die Mauer natürlich auch gesehen, aber eigentlich kaum mehr wahrgenommen …

Mir ging das nicht so. Das, was Sie beschreiben, war eine typische Reaktion eines Deutschen. Die deutsche Gesellschaft wollte die Mauer ignorieren. Viele sind sogar Umwege gefahren, um die Mauer nicht mehr zu sehen. Die anderen haben sie einfach ausgeblendet. Nur wenn man wie ich, direkt an der Mauer lebte, ging das nicht mehr.

Wenn Sie in diesen fünf Jahren nahezu täglich die Mauer bemalt haben, wovon haben Sie eigentlich gelebt?

Ich finde zwar, Kunst ist das Gegenteil von Arbeit. Aber ich habe von meiner Arbeit gelebt. Wenn ich an der Mauer gemalt habe, kamen immer mal Leute vorbei, die mich gefragt haben: Können Sie mir das in klein malen? Davon habe ich gelebt. Und ich habe im Rauch-Haus mit 50 Leuten gelebt. Wir hatten zwar nicht viel Geld, aber wir haben zusammen gegessen, mir hat es an nichts gefehlt.

Aber die Farben, die Sie tonnenweise an die Mauer gemalt haben, die müssen doch teuer gewesen sein. Haben Sie eine Idee, wie viel Farbe Sie verbraucht haben über die Jahre?

Keine Ahnung, das ist auch nicht wichtig. Man kann so viel Farbe an die Mauer malen, wie man will, die Mauer wird nicht schön.

Woher kam die Farbe?

Die haben wir aus den Recycling-Containern gefischt. Damals liefen die Vorbereitungen für die 750-Jahr-Feier von Berlin, und das Motto war: Schnell, schnell, wir müssen fertig werden! Und um schneller zu sein, haben die Firmen, die die Fassaden renoviert haben, aus den riesigen Farbeimern die Farbe nicht bis zum Ende rausgekratzt. Also sind Christophe Bouchet und ich jeden Abend rumgefahren mit meinem kleinen R4 und haben in die Container geguckt. Irgendwann hatten wir einen riesigen Vorrat im Rauch-Haus. Deshalb haben wir unsere Kunst auch Recycling Art genannt.

Nicht alle waren von Anfang an begeistert.

Nein, es gab Leute, die vorbeikamen, während ich malte, und haben mich angeschrien: Warum malst du die Mauer an? Wer bezahlt dich? Wer steckt dahinter? Warum kommst du extra aus Frankreich, um die Mauer zu bemalen? Bist du ein Spion? Um ehrlich zu sein: Ich war auf diesen Hurrikan aus Fragen gar nicht vorbereitet. Ich wusste ja eigentlich nichts über die Mauer, ich hatte in Frankreich in der Schule nichts über die Mauer gelernt. Und es gab ja noch kein Internet, kein Google. Da habe ich erst gemerkt, dass ich ein Tabu gebrochen hatte: Es hat ja niemand die Mauer bemalt. Es gab ein paar aufgemalte Sprüche, ja. Und zwei Künstler haben die Mauer auch mal angezündet, aber das war nur eine einmalige Aktion.

Sie hatten den Plan, die Mauer in ihrer gesamten Länge zu bemalen. Warum setzt man sich so ein Ziel?

Es war eine Aufgabe. Vielleicht eine Mission.

Eine größenwahnsinnige.

Ich habe das nie so ernst genommen. Wir waren jung und hatten sonst nichts zu tun.

Und warum haben Sie die mittlerweile berühmten Köpfe gemalt?

Die waren einfach und schnell zu malen. Irgendwann wurde das mein Stil. Ich wollte auch keine politischen Motive malen, denn schon allein das Bemalen der Mauer war ja ein politischer Akt. Indem wir die Mauer bemalten, haben wir gesagt: Die Mauer muss weg! Heutzutage heißt das Border Art – man macht eine Grenze sichtbar, obwohl die Regierung, die sie gebaut hat, sie verniedlichend Separation Border oder Friedensgrenze oder antifaschistischer Schutzwall nennt. Ich war ein Border Artist, ohne es zu wissen

Aber warum ausgerechnet Köpfe? Was bedeuten die?

Das weiß ich auch nicht. Keith Haring gab es damals schon, aber es wäre doof gewesen, jemanden zu imitieren. Imitation führt in eine Sackgasse, hat ja auch Andy Warhol gesagt. Also habe ich versucht, niemanden zu imitieren. Und dann sind diese Köpfe aus mir rausgeklickert. Einfach so. Witzigerweise erkennen sich Leute manchmal selber. Kleine Kinder erkennen immer ihre Großmutter. Dreijährige im Kinderwagen deuten auf die Köpfe und sagen: Oma, Oma!

30 Jahre nach dem Mauerfall malen Sie immer noch dieselben Köpfe. Warum sind Sie diesem Stil treu geblieben?

Das ist mein Stil, mein Leben. Die Mauer ist gefallen, aber die Mauerkunst lebt weiter. Ich kann mir nicht vorstellen, jetzt plötzlich Bäume zu bemalen. Oder Bäume zu malen. Diese Jahre, die ich die Mauer bemalt habe, die haben mich nun mal sehr geprägt. Die Leute, die mich beschimpft haben, die Leute, die gesagt haben: Das kann mein Fünfjähriger auch! Viele haben auch gesagt: Ach, das mal ich mir selber. Typisch Berlin!

Dann ist es Trotz, dass Sie immer noch so malen?

Ja, wahrscheinlich.

Wird das nach mehr als 35 Jahre nicht langweilig? Noch mal ein Kopf!

Nein, auf keinen Fall. Diese Köpfe haben die Stadt tief geprägt. Mich auch.

Sehen Sie die Mauer und die Köpfe als Fluch? Oder als großen Glücksfall?

Glück war, dass die Mauer irgendwann gefallen ist. So wurden die Köpfe zu einem Symbol für die neue Freiheit. Sie sind auf der ganzen Welt verteilt, sind in Museen zu sehen. Sogar die deutsche Botschaft in Washington hat ein Stück Mauer nachgebaut. Allerdings haben sie sich meine Köpfe von irgendjemand anderem drauf malen lassen. Das muss man sich mal vorstellen! Das war die Krönung! Nein, das war schon großes Glück. Auch dass ich von der Malerei leben konnte und nie einen Chef hatte, denn Chefs haben mich immer gehasst, ich bin ja, bevor ich mit dem Bemalen der Mauer angefangen habe, überall rausgeflogen.

Haben Sie und Ihre Mauermalerkollegen die Mauer zum Einsturz gebracht?

Nicht wir allein, aber eine kleine Hilfe waren wir schon. Gorbatschow hat schon auch sehr geholfen. Und die Leute im Osten, die demonstriert haben, natürlich auch.

Wie haben Sie die Nacht des Mauerfalls erlebt?

An dem Abend war ich mit dem Auto unterwegs und habe mich über den Stau und die Menschenmassen, die auf den Straßen unterwegs waren, gewundert. Also habe ich das Auto abgestellt und bin bis zum Checkpoint Charlie gelaufen. Da war die Hölle los, die Leute schrien, weinten und lachten. Es war ein unglaubliche Energie. Alle tranken Wodka Gorbatschow direkt aus der Flasche. Es ist nichts Spektakuläres passiert, aber es war einmalig. Ich musste dann aber nach Hause, weil meine Tochter damals erst zwei Jahre alt war.

Haben Sie sich über den Mauerfall denn gefreut?

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Natürlich.

Obwohl Ihnen klar war, dass jetzt Ihre Bilder verschwinden würden?

Das war mir im ersten Moment gar nicht bewusst. Aber es dauerte natürlich nicht lange, die Mauerspechte haben ja sofort angefangen. Aber so ist das nun mal mit Street Art. Wenn man auf der Straße malt, dann gehört das dazu. Man kann ja nicht vor der Mauer schlafen und sein Kunstwerk bewachen.

Aber plötzlich drohte vollkommen zu verschwinden, woran Sie fünf Jahre gearbeitet haben. Wie ging es Ihnen damit?

Ich habe nicht geweint. Ich habe nie gedacht: Oh, meine schöne Mauer. Denn die Mauer war schlimm, die Mauer war brutal. Es konnte nur besser werden. Außerdem haben wir ja sofort damit angefangen, die Mauer von der anderen Seite, vom Osten aus zu bemalen. Ein paar Freunde von mir aus Frankreich kamen und haben 1.000 Kilo Farbe mitgebracht, um die Mauer am Potsdamer Platz von der anderen Seite zu bemalen. Die große Euphorie hatte mich gepackt wie alle anderen auch.

Ein paar Menschen haben mit von Ihnen bemalten Mauerteilen zum Teil viel Geld verdient. Es gab Skandale. Wie geht es Ihnen damit?

Ein paar Hundert Meter Mauer sind in Monaco für die Charité versteigert worden. Eine Woche später hat die DDR-Bank pleite gemacht und man hat die Millionen nie wiedergesehen. Das fand ich besonders schlimm.

Vermissen Sie das alte, überschaubare Westberlin?

Wenn ich damals aus dem Fenster meines Zimmers im Rauch-Haus auf die Mauer geguckt habe, habe ich mir geschworen: Niemals werde ich diese Zeit nostalgisch verklären. Ja, ich war jünger, aber sonst hätte man das Leben in Westberlin auch gar nicht ausgehalten. Das Leben war artifiziell, das Schlimmste war diese tägliche Melancholie. In Berlin zu leben ist viel besser geworden. Ich vermisse nichts.

Nicht mal die Kaninchen auf dem Potsdamer Platz?

Nicht mal die Kaninchen, denn die sind noch da. Tagsüber sind sie versteckt, aber abends habe ich sie hüpfen sehen. Nachts kommen sie raus und fressen das, was die Touristen fallen lassen. Die Kaninchen gibt es überall in Berlin noch, die kriegt man nicht weg

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