Therapeutin über Corona-Depressionen: „Wir sind verwöhnt“
Die Psychotherapeutin Angelika Rohwetter empfiehlt gegen die Corona-Erschöpfung, das Leben in die Hand zu nehmen. Es gebe kein Recht auf „Normalität“.
taz: Frau Rohwetter, ein Rollentausch: Wie geht es Ihnen?
Angelika Rohwetter: Gesundheitlich schwächele ich ein bisschen, aber es ist kein Corona. Psychisch wechselt es, ich habe kleine Einbrüche, wie wir alle. Aber ich trotze ihnen.
Wie denn?
Mein Lebenselixier ist das Reisen. Ich buche, obwohl ich nicht sicher sein kann, dass es klappt. Für Oktober habe ich gerade eine größere Reise gebucht. Ich freue mich drauf.
Aber wenn es dann nicht klappt, wäre das ja sehr deprimierend.
Es kann sein, dass es nicht klappt. Aber ich habe es geplant und beschäftige ich mich dann nicht weiter mit den Eventualitäten. Die Vorfreude kann mir keiner mehr nehmen.
Hoffnung ist ein zentrales Element zur Krisenbewältigung?
68, arbeitet als Psychotherapeutin, Autorin und Dozentin in Bremen und veröffentlicht jede Woche einen Text mit Gedanken zum Umgang mit der Pandemie.
Eben genau nicht.
Warum nicht?
Hoffnung ist ein Aspekt von Erwartungen. Wo ich hoffe, kann ich enttäuscht werden. Es bedeutet eine Fixierung auf die Zukunft, von der wir nicht wissen, wie sie sein wird. Es geht aber darum, sein Leben jetzt zu gestalten, auch mit Plänen.
Bevor wir zum lösungsorientierten Teil kommen, lassen Sie uns noch im Krisenhaften verweilen. Wie lange hält man das aus?
Da sind wir wieder in der Falle. Wir befinden uns nur im Ausnahmezustand, wenn man den Regeln folgt, die vor der Krise galten. Aber ob das der normale Zustand war? Wir sind verwöhnt, wir tun so, als wäre es unser Recht, genauso zu leben wie früher. Das machen wir auch mit dem Klima so. Dabei ist es gar nicht unser Recht und geht dauerhaft auch nicht gut.
Sich das einzugestehen, ist aber sehr schmerzhaft. Viele scheint es auch wütend zu machen.
Oder mütend, dieses furchtbare Wort aus müde und wütend. Da schwingt ja der Vorwurf drin, dass jemand uns in diese Situation gebracht hätte und die Pflicht hätte, uns da rauszuholen.
Sind Sie gar nicht mütend?
Nein. Manches betrauere ich, zum Beispiel dass bestimmte Erholungsräume wie mein tägliches Mittagessen in meinem Lieblingscafé wegfallen. Das ist natürlich ein geringes Leiden, aber ich sehe und verstehe auch enorme individuelle Leiden. Es gibt aber keinen Anspruch, dass es anders sein kann.
Na ja, man könnte etwa von einem Gesundheitsminister schon erwarten, dass er dafür Sorge trägt, dass das Gesundheitssystem gut funktioniert, Schutzausrüstung vorhanden ist, Masken- und Testpflicht gelten …
Keine Frage, die Politik hat viele Fehler gemacht. Das hilft uns aber nicht, wir können es nur feststellen.
Hilft Wut nicht auch etwas? Dann ist man nicht so traurig.
Stimmt, Wut ist ein lebendiges und starkes Gefühl. Sie hilft, wenn ich sie in die richtige Richtung lenke, im Sinne von Trotz. Kein kindlicher Trotz wie „Ich will aber die Schokolade“. Sondern im Sinne von „trotzdem“. Ich gestalte mein Leben, obwohl es gerade so ist, wie es ist. Wer die Kraft hat, wütend zu sein, hat auch Kraft für anderes. Mit Wut ist man handlungsfähig. Obwohl Trauer auch ein sehr lebendiges Gefühl ist. Am schlimmsten ist Resignation.
Also wenn man den Antrieb verliert, etwas zu verändern und kapituliert. Sind wir in einer kollektiven Depression?
Nein. Die wird von rechts und von der Wirtschaft herbeigeredet, um Druck zu erzeugen. Das macht auch ängstlich, die Menschen fürchten um ihre Arbeitsplätze, obwohl es keinen objektiven Grund dafür gibt. Wenn zum Beispiel BMW Gewinne macht, obwohl Arbeiter in Kurzzeit geschickt wurden, kann das auch deprimierend wirken. Das ist dann aber mehr der Umgang mit dem Virus als das Virus selbst.
Sehen Sie eine Entwicklung oder einen Punkt der Pandemie, an dem auch psychisch stabile Menschen langsam nicht mehr können?
Ja, ganz klar. In der ersten Welle waren noch viele im positiven Trotz. Es gab Applaus vom Balkon, das Gefühl „Wir stehen das kollektiv durch und gehen gestärkt aus der Krise hervor“. An der zweiten Welle konnte man sich schon die Zähne ausbeißen, aber okay, ein letztes Mal noch. Jetzt ist die Luft raus.
Brot backen, Hula-Hoop und spazieren gehen sind todlangweilig geworden.
Wenn das nie Liebe war, geht schnell der Reiz verloren. Das macht aber nichts, man muss keinen preußisch-lutheranischen Anspruch haben, Dinge, die man angefangen hat, weiter oder zu Ende zu machen. Wenn Hula-Hoop langweilig wird, kann man Seil springen.
Habe ich schon gemacht.
Es ist wahnsinnig gut für die Kondition, Boxer trainieren auch viel mit Seilspringen.
Selbst geboxt habe ich schon.
Man kann Tausende Dinge machen.
Was machen Sie?
Ich gehe mit offeneren Augen durch die Welt. Früher habe ich nicht so geguckt, war mehr in meinen Gedanken. Wenn ich hingucke, sehe ich Corona nicht. Kürzlich habe ich einen Mammutbaum entdeckt, der ist bestimmt tausend Jahre alt. Da bin ich zuvor hundertmal dran vorbeigegangen, ohne zu sehen, wie besonders der ist.
Das klingt ein bisschen zu einfach.
Was ebenfalls gut tut, ist sensibler zu werden für das, was noch funktioniert. Dafür kann man dankbar sein, und davon gibt es doch ganz viel. Man kann natürlich auch mal jammern und klagen. Wichtig ist nur, dass man damit auch wieder aufhört.
Leichter gesagt als getan.
Na ja, wir fühlen uns unseren Gefühlen oft ausgeliefert, aber das sind wir nicht, wir haben ein Mitspracherecht – nur nicht unbeschränkt. Wenn wir voller Trauer, Wut oder Verzweiflung sind, braucht das Zeit, da kann man nichts dran ändern. Grundsätzlich haben wir aber Einfluss auf unsere Stimmung. Wenn wir uns zum Beispiel ablenken, stehen die negativen Gefühle nicht mehr im Fokus.
Wenn ich mich abends mit zwei Bier und einem Joint ablenke, ist das also gut?
Das ist ja eher Betäubung als Ablenkung. Das spricht dagegen, genau wie die Suchtgefahr.
Aber sind solche Strategien, die erst mal destruktiv wirken, per se schlecht, wenn sie doch helfen, mal abzuschalten?
Wenn sie Gefühle beruhigen, ist nicht grundsätzlich was dagegen einzuwenden, moralisch ist es völlig in Ordnung. Aber wenn wir uns damit neue Probleme einhandeln, wäre das schade.
Wie weit sollte man seinen Trieben in so einer anstrengenden Situation nachgeben? Sie zu kontrollieren, erzeugt ja auch Stress.
Es ist eine Befriedigung auf einer Ebene, die uns nicht wirklich gut tut. Nach zu viel Essen geht es uns ja schlecht, nach zu viel Alkohol sind wir verkatert. Und leider wird, wie uns etwas Gutes zu tun, auch das immer einfacher. Eine Generalabsolution „In dieser Krise darf ich machen was ich will“ ist nicht hilfreich.
Gesunde und nachhaltige Verarbeitungsstrategien für die Krisensituation zu entwickeln und beizubehalten, erzeugt aber zusätzlichen Druck.
Wenn ich mich dafür entscheide und das mit Disziplin tue, ja. Aber es kann sich verselbstständigen. Dann wird es immer leichter.
Ist es eigentlich verdächtig, wenn die Krise jemandem gar nichts ausmacht?
Da könnte es sich um Verdrängung handeln. Das muss nicht sein, aber verdächtig ist es schon.
Lassen Sie uns noch über eine andere Emotion sprechen: Angst. Die Pandemie führt uns brutal die eigene Sterblichkeit und die unserer Liebsten vor Augen. Was kann man dagegen tun?
Nichts. Es ist eine realistische Wahrnehmung. Wir wissen, dass unser Leben endlich ist. Ich kenne inzwischen eine ganze Reihe Leute, die Corona hatten, und einige, die daran gestorben sind. Wir sollten diese Realität nicht leugnen, aber auch nicht unser Leben bestimmen lassen. Lieber nehmen wir es selbst in die Hand und gestalten. Und zwar jetzt, anstatt darauf zu warten, dass die Pandemie vorbei ist. Die Kirche sagt: Es gibt ein Leben nach dem Tod. Brecht sagt: Es gibt ein Leben vor dem Tod. Kästner sagt: Heute ist dein Leben.
Sie sind bei Kästner.
Nicht immer, aber so oft es geht.
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