Theaterfestival in Estland: Hackerperformance an der EU-Außengrenze
Das Freedom-Festival im estnischen Narva verblüfft. Dort gab es originelles politisches Theater und Trotz gegen den östlichen Nachbarn Russland.

Freiheit wird in Narva groß geschrieben. Seit vier Jahren gibt es in der estnischen Stadt unmittelbar an der russischen Westgrenze ein Theaterfestival namens „Freiheit“. Zur diesjährigen Ausgabe waren Produktionen aus vielen Weltgegenden eingeladen, in denen Freiheitsgrade momentan massiv eingeschränkt sind.
Die kasachische Autorin, Regisseurin und Performerin Almira Ismailova etwa stellte in der dokumentarischen Soloperformance „Lost Daughter“ die Schwierigkeiten kasachischstämmiger Menschen vor, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in die nun eigenständige Republik nach Mittelasien zurückkehrten, dort aber als Bürger zweiter Klasse behandelt werden.
Die queere Aktivistin und Performerin Ayjamal Bekten aus dem kirgisischen Bishkek wiederum zeigte die Kämpfe queerer Personen auf. Sie verwies in ihrer Performance-Lecture „Ode to Freedom“ auf die Figur der Schamanen in nomadischen Gesellschaften, die oft queere Menschen waren und auf diese Weise einen geachteten Platz in der Gesellschaft fanden.
Kollegen aus dem Kaukasus
Bemerkenswert am Mittelasienkomplex des Festivals war zudem, dass die Veranstalter mit dem armenischen Festivalorganisator Artur Ghukasyan und seinem aserbaidschanischen Kollegen Kamran Shahmardan Vertreter zweier verfeindeter Nationen, die sich in einem jahrzehntelangen blutigen Krieg verkeilt haben, zu einem Gespräch zusammenbrachten.
Und obwohl die beiden Männer selbst gewillt sind, Kulturmanager des anderen Lands in ihr jeweiliges Festival einzuladen, glauben sie nicht, dass dies in den nächsten drei bis fünf Jahren möglich sein wird. Was sie auf die politische Lage zurückführen. „Erst müssen die Wunden heilen,“ meinte Shamardan.
Den Fokus auf Zentralasien begründete Allan Kaldoja, Mitgründer und Co-Kurator des Festivals, gegenüber der taz einerseits mit Parallelen in der Geschichte der einstigen Sowjetrepubliken. Denn egal, ob im Baltikum oder in der Kaukasusregion, stets wurden die dort lebenden Völker durch koloniale Eroberungen dem russischen Riesenreich einverleibt.
Verkehrssprache Russisch
Sie befreiten sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion daraus und legen seitdem Wert auf die Entwicklung jeweils eigener nationaler Identitäten. Als zweiten Grund nannte Kaldoja: „Diese Produktionen sind meist in russischer Sprache. Das verstehen viele Einheimische hier. Und wenn sie in diese Vorstellungen kommen, stellen sie fest, dass man Russisch nicht nur zum Lob des Imperiums und seiner Großartigkeit verwenden kann, sondern sich auf Russisch auch über Freiheit sprechen lässt.“
In Narva, der östlichsten Stadt Estlands, ist dieser Aspekt besonders wichtig. Denn die große Mehrheit der Bevölkerung ist russischstämmig. „Nur zwei bis drei Prozent der Einwohner von Narva sprechen Estnisch“, erklärt Piret Jaaks der taz.
„Manche Ortsansässige sagen uns, dass sie sich nicht wohl dabei fühlen, ihre Muttersprache öffentlich in ihrem eigenen Land, ihrer Heimatstadt zu sprechen. Leute sagten ihnen: ‚Könnt ihr nicht Russisch sprechen? Was stimmt mit euch nicht?‘“, beschreibt die Dramatikerin und Romanautorin aus der Hauptstadt Tallinn eines der großen Probleme der Grenzstadt Narva.
80 Jahre sowjetische Migrationsgeschichte
Ursache ist ein radikaler Bevölkerungsaustauch nach dem Zweiten Weltkrieg. „1944 bombardierten die Sowjets Narva. Den Einheimischen wurde danach nicht erlaubt, in die Stadt zurückzukehren. Stattdessen wurden Menschen aus allen Gegenden des Riesenreichs nach Narva gebracht, erzählt Jaaks. Die letzten 80 Jahre Migrationsgeschichte in Narva hat sie in ihrem Dokumentartheaterstück „Internal Climate“ für das Festival komprimiert.
Sie fokussiert sich dabei auf die einst geheime Fabrik Baltijets. Hier stellten ausschließlich russischstämmige Menschen unter anderem Bauteile für das Atomwaffenprogramm und das Weltraumprogramm der einstigen Sowjetunion her. „Man hat uns erzählt, dass wahrscheinlich immer noch Teile aus Baltijets durchs Weltall fliegen“, sagt Jaaks.
Aus den Interviews mit ehemaligen Beschäftigten des Werks, die die Grundlage des Stücks bilden, ging auch hervor, dass viele sich zwar als russisch identifizieren, sie aber keinesfalls von Wladimir Putin in dessen Riesenreich „heimgeholt“ werden wollen. Wegen der in der Grenzstadt Narva besonders intensiv verspürten Bedrohung durch den Nachbar Russland spielte der Ukrainekrieg auf dem Festival eine bedeutende Rolle.
Verletzungen von Kriegsveteranen
Merle Karusoo, Altmeisterin des estnischen Dokumentartheaters, brachte in ihrem Performanceformat „Who Am I?“ ukrainische Kriegsveteranen beiderlei Geschlechts auf die Bühne. Sie erzählten von ihrer Entschlossenheit, zu kämpfen. Deutlich zu sehen waren aber auch die psychischen wie physischen Verletzungen.
Das Stück soll nach dem Festival auch den in Estland stationierten Nato-Soldaten gezeigt werden. Es wurde eigens vom Festival produziert, wie auch die Hackerperformance „Spy Girls“. Die polnische Künstlerin und Aktivistin Magda Szpecht kreierte auf der russischen Social-Media-Plattform VKontakte Fakeprofile russischer Frauen, die vorgeben, an einer Beziehung zu russischen Soldaten im Ukrainekrieg interessiert zu sein.
Tatsächlich meldeten sich zahlreiche Soldaten und sendeten sogar Videos von der Front. Die so erhaltenen Informationen über russische Truppenbewegungen gibt Szpecht zeitnah an die Ukraine weiter, erzählte sie taz. In der Performance beschreiben drei maskierte Akteure, wie sie die Fakeprofile entwickelten und Kontakt zu den Soldaten halten, aber auch welche Skrupel sie selbst dabei hatten. Szpecht beobachtete im Verlauf der zahlreichen Interaktionen mit den russischen Frontsoldaten deren zunehmende Frustration über Versorgungsengpässe und unfähige Kommandeure.
Im Kontext der vielen Produktionen über Repression und Leid eröffnete „Spy Girls“ eine smarte Option für eigenes Handeln und ging damit in die Offensive. Die in Narva produzierte Show tourt seit letztem Jahr auch durch Westeuropa. Vom östlichen Rand der Europäischen Union gehen also auch künstlerisch interessante Impulse aus. Und die Veranstalter sind sich sicher, dass es auch bei der nächsten Festivalausgabe 2027 viele Anlässe geben wird, um Freiheit und den Mangel an Freiheit auf der Bühne zu verhandeln.
Die Recherche zu dem Text wurde unterstützt vom Freedom-Festival.
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