Theater über den Ukraine-Krieg: Liebe ist auch nur ein Schlachtfeld
Ein Höhepunkt der Theatersaison: Mit Natalia Vorozhbyts Drama „Zerstörte Straßen“ führt Niklas Ritter in Göttingen mitten in den Ukraine-Krieg.
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Natascha (Jenny Weichert) tritt mit einem Monolog vors Publikum. Die feministisch gebildete Journalistin erzählt von ihren Recherchen zum Kampf russischer Separatisten im Donbass – aber auch, dass sie einem interviewten Soldaten sofort gefallen will. Ihr Ex sei ein „feinfühliger Klassikliebhaber“ gewesen, daheim in Kiew warte ein „junger Veganer“ auf sie. Jetzt erotisieren sie die Uniform, das maskuline Gehabe und die groben Hände des kraftstrotzend drahtigen Sergej, der das Wesen des Krieges, das Töten, zum Beruf gemacht hat.
Als er beschreibt, wie Menschen von Drahtminen zerrissen wurden, schaut Natascha nur auf seine Lippen und denkt an Sex. Ohne zu zögern nimmt sie Sergejs Einladung zu einem Roadtrip nach Mariupol an.
Durch elende, kaputte, vollends triste Landstriche geht die Reise, in schäbigen Herbergen wird übernachtet. Natascha: „Ich liege auf glühenden Kohlen aus dem einen Grund. Ich will dich … Du liegst auf dem Nachbarbett, ein mit Waffen bedecktes Tier, und schnarchst.“ Was ist es nochmal, das diesen Mann attraktiv macht? Er wolle „die Integrität und Unabhängigkeit“ der Ukraine wahren, sagt Natascha: „Unsere Frauen sind im letzten Jahr verrückt nach Militärs … Jetzt bin auch ich verrückt geworden.“
Von der Liebe in Zeiten des Krieges berichtet das Stück, „vom ersten Kuss vor dem Hintergrund der Gefechte“, wie Natascha mit rasendem Herzen artikuliert und sich direkt ans Publikum wendet: „Das ist alles zu maßlos schön. Ich spüre richtig, wie ihr mich alle beneidet und zugleich vor mir ausspuckt.“ Aber es kommt wie es in entmenschlichten Zeiten kommen muss. Als Sergej mit der Kampfausrüstung auch seinen brutalen Alltag abzulegen versucht, ist vor allem der Verlust seiner Männlichkeit festzustellen: „Da hast du keinen hochgekriegt. Nicht mal ansatzweise.“
Letztlich bestand die Affäre der beiden nur aus Projektionen, vielen Worten und einem scheuen Knutscher – im vergeblichen Bemühen, dabei etwas zu fühlen. Darum geht es der Autorin, die physischen Verwundungen und psychischen Verwüstungen sowie die Zerstörungen von Glauben und Werten angesichts der Gewalterfahrungen wie auch Todesängste im täglichen Überlebenskampf schonungslos aufzuzeigen – mit den Folgen fürs soziale Miteinander.
Zudem macht Natalia Vorozhbyt deutlich, dass Putins Schergen mit dem massenmörderischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 nicht urplötzlich für eine Zäsur der europäischen Geschichte gesorgt haben, sondern dass die russische Aggression spätestens seit 2014 im Osten des Landes getobt und zur Annexion der Krim sowie des Donbass geführt hatte.
Dort arbeitete die Autorin damals als Dokumentartheatermacherin, sammelte Stimmen, schrieb Erlebnisse auf, dramatisierte sie und überließ dieses „Zerstörte Straßen“-Material 2017 dem Royal Court Theatre London zur Uraufführung. Die Verfilmung des Stoffes übernahm Vorozhbyt selbst – es wurde der ukrainische Beitrag für den Oscar als bester ausländischer Film 2022. Dass die dezent miteinander verwobenen Szenen nun in Göttingen von Niklas Ritter höchst nachdrücklich inszeniert wurden, ist einer der Höhepunkte der aktuellen Theatersaison im Norden.
Auf der dunklen Drehbühne steht als Zeichen irreparabler Schäden eine schwarze Skelett-Skulptur, deren ineinander gebogene Stangen auseinandergesprengt sind. Sie rotieren unaufhaltsam. Aus diesem kreiselnden Stillstand der Unruhe treten die Figuren heraus. Etwa ein Schulleiter, der von machtberauschter ukrainischer Soldateska an einem Checkpoint drangsaliert wird, weil sie ihn für einen russischen Killer halten und alle Bürgerrechte absprechen. Während der Schikanen entdeckt er bei den Militärs eine seiner Schülerinnen, die sich wie einige Freundinnen für Geschenke prostituieren.
Zerstörte Straßen, von Natalia Vorozhbyt, wieder am 17. 1., 1. und 15. 2., sowie 2. und 24. 3., jeweils 19.45 Uhr, Deutsches Theater Göttingen
In einer weiteren Episode transportiert die Geliebte eines Kommandanten dessen geköpften Leichnam heim zur Gattin. Schließlich verschleppt ein russischer Soldat eine ukrainische Frau, beleidigt, erniedrigt, foltert sie, uriniert auf ihren Körper und tönt stolz, wie ihre Ohnmacht ihn geil mache.
Dabei verfällt dieser komplett kriegstraumatisierte Psychopath in homophobe und antisemitische Tiraden, bis er sich an seine bürgerliche Vergangenheit als braver Linguistik-Student erinnert – und in einem hilflosen Moment der Zuneigung vom Missbrauchsopfer erschlagen wird.
In einem Epilog verkündet Natalia Vorozhbyt, die zehn Jahre in Moskau gelebt, dort studiert, Theater und Fernsehen gemacht hat, dass sie viel lieber Literatur über einen normalen Alltag verfassen würde, den aber gebe es in der Ukraine nicht mehr.
Die literarischen Auseinandersetzungen mit der grausamen Wirklichkeit rette niemanden, aber nur dazu erhalte sie Schreibaufträge, die zumindest etwas von dem Schmerz ablenken, mit der Barbarei des Krieges alles verloren zu haben, was gut war.
Liebe ist in „Zerstörte Straßen“ daher auch keine Friedensmetapher, sondern ein beispielhaftes Schlachtfeld. Das durchweg beeindruckende Darsteller:innen-Quintett entwirft darauf beklemmend präzise Charakterskizzen einiger von zivilisatorischem Firnis mehr oder weniger entblätterter Menschen, mit denen kein demokratischer Staat mehr zu machen sein wird. Eine nachvollziehbar düstere Prophezeiung für die Nachkriegssituation in der Ukraine und in Russland.
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