Terrorismusexperte über Islamismus: „Die Gefahr ist wieder gestiegen“
Geht von Islamisten heute weniger Bedrohung aus? Ja, sagt Terrorismusexperte Peter Neumann. Doch Anschläge der jüngsten Zeit gäben Anlass zur Sorge.
taz: Herr Neumann, seit der Verhaftung von Abu Walaa Ende 2016 hat sich die Diskussion über Terrorismus in Deutschland sehr verändert. Damals, kurz vor dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz, stand der islamistische Terror im Mittelpunkt, inzwischen ist dieser deutlich weniger präsent. Wie schätzen Sie die Gefahrenlage derzeit ein?
Peter Neumann: Mit Blick auf den islamistischen Terrorismus ist es deutlich weniger gefährlich als noch vor fünf oder sechs Jahren. Zur Hochzeit des Islamischen Staates, als es das so genannte Kalifat gab, gab es nicht nur dort eine Infrastruktur, sondern auch hier in Europa. Abu Walaa war Teil davon. Der IS konnte generalstabsmäßig große Anschläge organisieren – zum Beispiel in Brüssel und Paris. Diese Fähigkeit hat der IS nicht mehr. 2017 war auf den entsprechenden Kanälen unter den Anhängern auch eine Art Sinnkrise spürbar. Deshalb sagen manche, das sei alles vorbei.
Und: Ist es das?
Nein, in dieser Zeit wurden sehr viele Leute radikalisiert, und auch wenn derzeit der Enthusiasmus unter den Anhängern nicht so groß ist, gibt es weiter Leute, die die Ideen des IS, den bewaffneten Dschihad und auch Anschläge in Europa, nach wie vor teilen. Die lassen sich wieder aktivieren. Im Laufe des letzten Jahres, als durch die Diskussion über die Mohammed-Karikaturen in Frankreich und die Äußerungen von Präsident Macron die Stimmung angeheizt wurde, war das Gefühl: Es geht wieder ein bisschen was. Das lag natürlich auch daran, dass es wieder Anschläge gab, die weitere motiviert haben. Zuletzt ist die Gefahr also wieder etwas gestiegen.
Wie sieht es in anderen Regionen der Welt aus?
In Syrien und im Irak agieren die Reste des IS als Untergrundarmee, eine offen agierende Organisation ist das nicht mehr. In anderen Teilen der Welt ist der Islamische Staat aber stärker geworden, das gilt besonders für Afrika. Dort gibt es, zum Beispiel in Kenia, Somalia und Uganda in Ostafrika, eine IS-Präsenz, die es vor vier oder fünf Jahren noch nicht gab. Aber das hat nicht das Potential, so groß zu werden, wie 2014/2015 in Syrien und im Irak.
Was heißt das konkret für Deutschland?
46, ist Experte für islamistischen Terror und Professor für Sicherheitsstudien am International Center for the Study of Radicalisation am Londoner King's College
Viele der Radikalisierten führen das Leben, das sie vorher auch geführt haben. Manche haben sich abgewendet, andere halten sich bedeckt. Das haben wir auch früher schon gesehen. Die erste große Mobilisierung von Auslandskämpfern war in den 80er Jahren nach Afghanistan. Als der Krieg vorbei war, sind die meisten in ihre Heimatländer zurück gegangen. Für die meisten von denen wurde der Dschihad nicht zum Hauptberuf.
Aber ein Teil von ihnen ist im Bosnienkrieg wieder aktiv geworden. In der aktuellen Situation, in der viele enttäuscht über das Scheitern des Kalifats sind und der Strafverfolgungsdruck zudem ziemlich intensiv ist, warten viele ab, was passiert. Ein Teil von ihnen ist meiner Ansicht nach ansprechbar für Deradikalisierungsprogramme, weil sie selbst desillusioniert sind. Das sollte man nutzen.
Es gibt zahlreiche Dschihadisten, die in Deutschland oder anderen europäischen Ländern im Gefängnis sitzen und bald rauskommen. Was ist mit denen?
Ein Kollege und ich haben dazu im vergangenen Jahr eine europaweite Studie gemacht. Deutschland ist das einzige Land in der EU, wo die Extremisten im Gefängnis nicht zentral erfasst werden. Die Lage in den Bundesländern ist sehr unterschiedlich. Mancherorts weiß man wenig darüber, ob die Leute sich weiter radikalisiert haben oder vielleicht deradikalisiert sind.
Das ist ein Problem, denn in Deutschland geht es geschätzt um 100 bis 150 Menschen. Darauf muss man sich vorbereiten – in der Prävention und auch in der Überwachung. Dazu braucht es eine funktionierende Riskioeinschätzung, wie gefährlich eine einzelne Person noch ist. Damit müsste man sich jetzt beschäftigen. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass das systematisch genug geschieht.
Und wie sieht es bei den IS-Kämpfern aus Deutschland aus, die derzeit in Syrien und im Irak inhaftiert sind?
Da wird in der Bundesregierung nach dem Sankt-Florians-Prinzip gehandelt – hoffentlich bleiben sie möglichst lange dort. Da sind Frauen und Kinder darunter, aber auch schwere Fälle: Die waren bis zum Schluss dabei und haben gekämpft, sind ideologisch gefestigt und verroht. Früher oder später werden einige von denen wieder bei uns auftauchen. Auch da passiert nicht genug, um sich vorzubereiten. Es wäre sinnvoll, die Leute kontrolliert zurückholen, natürlich nicht alle 300 auf einmal. Die einfachsten Fälle zuerst, manche würden vielleicht gegen andere aussagen. Dann wäre es leichter, die schweren Fälle vor Gericht zu stellen. Denn bei vielen Gerichtsverfahren ist es ja sehr schwierig nachzuweisen, was die Leute in Syrien konkret gemacht haben.
In Europa gab es zuletzt nur noch kleinere Anschläge, darunter auch die Messerattacke auf ein schwules Paar in Dresden, bei der einer der Männer starb. Und der Anschlag in Wien. In der gesellschaftlichen Debatte ist das Thema kaum noch präsent. Besteht ein Risiko, dass die Gefahr vom Radar verschwindet?
Nein, das glaube ich nicht. Momentan gibt es in der Politik und in den Sicherheitsbehörden dazu noch eine ziemlich solide Haltung. Dort weiß man, wie wichtig die Nachhaltigkeit ist, auch um die Infrastruktur für Prävention und Deradikalisierung zu schaffen. Es wäre katastrophal, wenn dort jetzt Mittel raus gezogen würden. Die Zeit für Prävention ist ja idealerweise nicht nach, sondern vor Anschlägen. Aber es könnte schon sein, wenn noch zwei, drei Jahre ohne großen Anschlag vergehen, dass solche Stimmen lauter werden. Dem muss man unbedingt entgegenwirken.
Wir wissen, dass Islamismus und Rechtsextremismus die beiden terroristischen Bedrohungen sind, die uns in den nächsten Jahrzehnten in Westeuropa beschäftigen werden. Und wir müssen beide im Blick behalten.
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