Tarifverhandlungen bei der BVG: Tempo, Tempo, Herr Kaya!
Bei den BVG-Tarifverhandlungen geht es auch um die Wendezeiten für Busfahrer*innen. Die reicht allzu häufig kaum aus, um auf Toilette zu gehen.
Die Gewerkschaft Verdi und die BVG verhandeln nach wie vor über einen Manteltarifvertrag. „Es geht um alles außer Geld. Wir fordern Entlastung“, sagt Gordon Günther, Gewerkschaftssekretär für den Fachbereich Busse und Bahnen bei Verdi. Die Regelung zur Wendezeit ist dabei ein zentrales Element. Schließlich sind die Busfahrer*innen die größte Berufsgruppe innerhalb des Unternehmens. An der Endhaltestelle angekommen, haben sie im kürzesten Fall vier Minuten Zeit, um den Bus zu wenden und zur ersten Haltestelle zu fahren. Verdi fordert zehn Minuten, damit die Busfahrer*innen „einmal kurz durchatmen können“.
Eine Frau mit Rollator steigt bei Erdogan Kaya ein. Sie geht langsam, setzt sich vorsichtig hin, zieht die Bremse am Rollator an. Sie kennt den Zeitplan nicht. Klapp, Knall, dann Geschrei – ein kleiner Junge ist von den hochklappbaren Sitzen auf den Boden gefallen. Kaya fragt, ob etwas passiert sei. Die Mutter winkt ab.
Die Fahrt geht weiter. Hier sind die Straßen eng. „Für den Job braucht man Konzentration, man muss fit sein“, sagt Kaya. An dieser Kreuzung hätten sich einmal zwei Busse beim Abbiegen ineinander verkeilt.
Darum geht’s: Verhandelt wird lediglich der Manteltarifvertrag. Darin sind die Arbeitsbedingungen geregelt wie Pausenzeiten, Urlaubsanspruch, Schichtmodelle und Ruhezeiten. Verdi fordert in allen Bereichen eine Verbesserung, insbesondere aber auch eine Erhöhung der Wendezeiten auf zehn Minuten auf allen Linien.
Stand der Verhandlungen: Nach dem zweiten Warnstreik Ende Februar kommen die Verhandlungen voran. Einigen konnte man sich bei Punkten, die keinen Personalmehraufwand bedeuten: sechste Entgeltstufe, bezahlte Pausenzeiten, Urlaubsgeld, Zulagen. Die nächste Verhandlungsrunde ist für den 28. März vorgesehen.
Acht Minuten Wendezeit
Der letzte Fahrgast ist ausgestiegen. Kaya fährt zur Wendeschleife. Er schaltet den Motor aus, nimmt einen Kugelschreiber und ein kleines Blatt Papier zur Hand. Wendezeit sind hier acht Minuten. Die Ankunftszeit ist sechs Minuten hinter Plan. Bleiben ihm noch zwei Minuten bis zur geplanten Abfahrt. Kaya steht auf, läuft von vorn nach hinten durch den Bus und schaut, ob alles in Ordnung ist. Danach wendet er den Bus und beginnt eine neue Fahrt.
Ende Februar stand Kaya in gelber Warnweste vor der BVG-Zentrale an der Holzmarktstraße in Mitte. Verdi hatte zum Streik aufgerufen, die Tarifverhandlungen waren nicht vorangekommen. Hier ein Händeschütteln, da eine Umarmung: „Wie geht es dir? Was machst du?“ Seit 35 Jahren arbeitet er als Busfahrer.
Kaya ist Teil der Koffergeneration: Jahrelang reiste er in den Sommerferien aus der Türkei nach Deutschland. Erst mit 14 zog er aus der Obhut seines Onkels nach Berlin zu seinen Eltern. Im Juni 1989 fing er bei der BVG an, im November fiel die Mauer. „Das war eine tolle Zeit. Auf einmal war die Stadt voller Menschen“, sagt er. „Mir wurde gesagt, ich solle nicht die Fahrkarten kontrollieren und alle Menschen mitfahren lassen. Das habe ich getan.“
Acht Jahre bis zur Rente
Damals hatte Kaya zwischen den Touren Zeit, um sich mit seinen Kollegen*innen zu unterhalten. Heute ist die Wendezeit für Kaya ein Problem. „Du kommst schon zu spät an und hast dann Stress, den Bus zu wenden und eine pünktliche Abfahrt zu schaffen.“ Kaya bleiben noch acht Jahre bis zur Rente. Er überlegt, seine Arbeitszeit zu reduzieren. „Die Arbeitsbedingungen sind Stück für Stück schlechter geworden. Man macht sich kaputt.“
Laut BVG waren 1990 bei der BVG (West) und den Berliner Verkehrsbetrieben BVB (Ost) zusammen 27.400 Angestellte beschäftigt. Nachdem das Personal bis 2010 auf 12.650 geschrumpft war, stieg die Zahl bis Ende 2023 auf immerhin 16.100 Mitarbeitende wieder an. Der Altersdurchschnitt der Busfahrer*innen liegt bei 48 Jahren. In den kommenden Jahren werden viele Babyboomer in Rente gehen. Die Bundesagentur für Arbeit listet den Beruf der Bus- und Tramfahrer*innen in einer Analyse für das Jahr 2022 als Engpassberuf.
Nach eigener Aussage hat die BVG im vergangenen Jahr rund 650 Busfahrer*innen eingestellt. „Das Problem ist nicht, dass keine neuen Busfahrer eingestellt werden. Das Problem ist, dass sie sofort wieder kündigen“, berichtet Kaya.
Fachkräftemangel ist bereits deutlich zu spüren
„Die Akzeptanz für die Streiks ist da, auch gerade angesichts der Inflation“, sagt der Gewerkschaftsexperte Bernhard Ebbinghaus von der Universität Mannheim. „Was sich natürlich ändern könnte, wenn die Streiks zu lange dauern.“ Während der Coronapandemie habe es einen „angestauten Bedarf“ nach Tarifverhandlungen gegeben. „Der Fachkräftemangel ist bereits deutlich zu spüren, das stärkt die Arbeitnehmerseite. Andererseits ist es dadurch aber auch schwer, die Arbeitszeit für die bestehenden Angestellten zu verkürzen“, beschreibt er das Dilemma.
Für Kaya geht es weiter auf der Linie 125. Noch weiter raus aus der Stadt. Die Haltestellen heißen Jägerstieg und Am Amseltal. Hohe Bäume säumen die frei stehenden Häuser mit ihren großzügigen Grundstücken. Am S-Bahnhof Frohnau gibt es eine Umleitung. Das bedeutet zwei Minuten Umweg, die im Zeitplan nicht berücksichtigt sind.
Nach der letzten Station biegt Kaya zur Wendeschleife in einen Waldweg ab. Er parkt den Bus und steigt aus. Die Wipfel der Kiefern bewegen sich im Wind. Die Luft ist klar. Die Vögel zwitschern. Er stapft eilig durch schlammige dunkle Erde zum grünen Toilettenhäuschen. Viel Zeit hat er nicht: Die Wendezeit reicht eigentlich nicht aus, um auf die Toilette zu gehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Gespräche in Israel über Waffenruhe
Größere Chance auf Annexion als auf Frieden
Krieg in der Ukraine
USA will Ukraine Anti-Personen-Minen liefern