Tanja Maljartschuk über Traumata: „Das Verdrängte ans Licht holen“

Die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk lebt in Österreich. Ein Gespräch über nur schlecht vergrabene Traumata.

Portrait von Tanja Maljartschuk

Die Autorin Tanja Maljartschuk in einer Buchhandlung in Wien Foto: SZ/picture alliance

taz am wochenende: Frau Maljartschuk, Sie leben seit über zehn Jahren in Österreich. Verfolgen Sie auch die deutsche Debatte über die Ukraine?

Tanja Maljartschuk: Früher habe ich sie mehr verfolgt als im Moment. Ich trete oft in Deutschland auf, spreche mit sehr vielen Menschen mit unterschiedlicher Meinung. Das tut mir persönlich auch gut. Ich versuche zu verstehen, wie es überhaupt zu einem Krieg in Europa kommen konnte. Nach fast acht Monaten Krieg hängen nach wie vor überall ukrainische Fahnen. Die deutschen Bürger haben sich für Geflüchtete engagiert und zeigen enorme Solidarität. Gleichzeitig lese ich mit Besorgnis Nachrichten wie etwa aus Leipzig, wo eine Demonstration von Ukrainern stattfand, die von Gegendemonstranten als Nazis beschimpft wurden. Das ist für mich schwer zu ertragen und noch schwerer zu verstehen.

Wie bewerten Sie die Haltung der deutschen Intellektuellen?

Die Schriftstellerin wurde 1983 in Iwano-Frankiwsk im Westen der Ukraine geboren, wo sie später Philologie studierte. Maljartschuk arbeitete einige Jahre als Fernsehjournalistin in Kiew und schreibt Romane, Essays und Erzählungen. 2018 erhielt sie für den auf Deutsch verfassten Text „Frösche im Meer“ den Ingeborg-Bachmann-Preis. Ihr Essayband „Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus“ erschien 2022 bei Kiepenheuer & Witsch. Seit 2011 lebt die Autorin in Wien.

Ambivalent. Einerseits unterstützen sie die Ukraine, gleichzeitig versuchen sie den demokratischen Prozess in der Ukraine immer wieder abzuwerten. Das passiert, weil sie im Allgemeinen sehr wenig über die Ukraine wissen.

Das ukrainische Exilleben ist eine historische Konstante. Wie sehen Sie sich als ukrainische Schriftstellerin im Exil in diesem Kontext?

Ich würde mich nicht als Exilantin bezeichnen, denn ich bin freiwillig, der Liebe wegen, aus der Ukraine ausgewandert. Durch technische Mittel wie Skype oder WhatsApp fühle ich mich nicht allzu sehr aus dem ukrainischen Kontext gerissen. Dadurch bin ich einerseits in der Ukraine geblieben und habe andererseits den deutschsprachigen Raum und die Kultur kennengelernt. Was für eine Bereicherung. Ich habe mich als freiwillige Weltbürgerin mit ukrainischen Wurzeln betrachtet. Heute befinden sich diese Wurzeln in Flammen. Ich kann mich vorm Schmerz nirgendwo auf der Erde verstecken.

Und dennoch beschäftigt Sie das ukrainische Exilleben in Ihrer literarischen Arbeit. Unter anderem auch in Ihrem Roman „Blauwal der Erinnerung“.

Die Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert steht natürlich in engem Zusammenhang zum Exilleben. Es gab mehrere Auswanderungswellen der ukrainischen Elite. Etwa in den 20er Jahren mussten Intellektuelle vor den Bolschewiki fliehen. Damals verließen über 50.000 gut ausgebildete Menschen das Land, praktisch die ganze damalige Intelligenz. Für die ukrainische Gesellschaft war das eine Katastrophe, die sich im und nach dem Zweiten Weltkrieg wiederholte. Jedes Mal war es das Gleiche: eine kurze Blütezeit, die sich mit physischer Vernichtung abwechselte.

Sie schildern in Ihrem Essayband „Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus“ eine Episode, die sich in den 2000er Jahren zuträgt. Eine Taxifahrerin fragt nach Ihrer Herkunft. Ihre Antwort „aus der Ukraine“ weiß die Frau jedoch nicht einzuordnen. Es scheint, dass die Ukraine in der Vorstellung des Westens lange keinen festen Platz hatte.

Die Geschichte hat sich 2007 zugetragen. Ich habe sie nicht erfunden, sie ist wirklich so passiert. Damals war ich noch sehr jung und habe das Unwissen der Frau nicht als beleidigend empfunden, sondern als normal. Ich wurde stets als Osteuropäerin wahrgenommen, ja, als Nichteuropäerin sogar. Heute haben sich die Umstände geändert. Ich habe das Recht, mich zu empören, da ich mitsamt meiner Kultur, meiner Geschichte und meiner Werte zu Europa gehöre.

Von deutschen Literaturkritikern wurden Sie in der Vergangenheit immer wieder in russische Zusammenhänge und Traditionen eingeordnet. Dabei verorten Sie sich mit Ihrem Schreiben in ganz anderen Erzähltraditionen.

In der ersten deutschsprachigen Rezension meines Romans „Biografie eines zufälligen Wunders“ wurde ich mit dem russischen Schriftsteller Saltykow-Schteschedrin verglichen, einem Autor, für den ich mich nie interessiert habe. Ich fand das damals merkwürdig, gemeint war es wohl als Kompliment. Heute verstehe ich, dass das ein allgemeines Problem der Literaturkritik in Deutschland war. Osteuropäische Autoren wurden häufig nur im Kontext der russischen und sowjetischen Literatur gesehen, obwohl bereits zwei Generationen in der Ukraine nichts mehr damit zu tun hatten. Die mitteleuropäische Literatur, Joseph Roth, Franz Kafka, Milan Kundera, Olga Tokarczuk, bildeten meinen ästhetischen Ursprung.

Eine besondere Bedeutung in Ihrem autobiografisch geprägten Schreiben kommt der Erinnerung zu. Auch in Ihren aktuellen Essays kehren Sie immer wieder in die Vergangenheit zurück.

Ich komme aus einem Land, in dem sehr viel durch Terror und Gewalt vergessen wurde. In der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, wurde die Erinnerung an die Verbrechen praktisch ausradiert. Die Menschen, die vor dem Zweiten Weltkrieg dort gelebt haben, wurden deportiert oder ermordet. Ihre Geschichten waren nicht präsent, als ich hier aufgewachsen bin. Man könnte sagen, ich bin in der Luft aufgewachsen. Ohne Boden unter den Füßen. Der Boden in der Ukraine ist kontaminiert und vergiftet. Hier liegen unzählige Opfer der Diktaturen und Regime.

An das Unheil zu erinnern ist auch ein schmerzhafter Prozess. Warum setzten Sie sich ihm aus?

Bis ich 30 war, habe ich ausschließlich Geschichten über die Gegenwart geschrieben. Über Verlierertypen, die am Rand der Gesellschaft stehen, dazu zählte ich mich selbst auch. Erst danach begann ich mich tatsächlich für dieses seltsame Land zu interessieren, in dem ich aufgewachsen bin. Mir wurde klar, dass so viele hier Schwierigkeiten mit ihrer Identität hatten, weil so vieles vergessen und verdrängt wurde. Man kann zwar eine Weile gut leben, ohne sich zu erinnern. Aber das Trauma kehrt zurück. Das Vergessene und Verdrängte quält einen und schafft neue Probleme. Die Aufgabe von uns Schriftstellern und Intellektuellen ist daher, wenn die Zeit kommt, das Verdrängte ans Tageslicht zu holen.

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