Neuer Roman von Joanna Bator: Schicksale von vier Generationen

Joanna Bator hat einen großen Familienroman geschrieben. Ihren Figuren haucht die Erzählerin in all dem historischen Schrecken Menschlichkeit ein.

Rückenansicht einer jüngeren und einer älteren Frau, Arm in Arm, die jüngere dreht sich um

Träume vom aufregenden Leben: Mutter mit Tochter im heute polnischen Wałbrzych Foto: Annette Hauschild/Ostkreuz

Auf der Landkarte des links-liberalen Nachkriegsdeutschland war Schlesien ein weißer Fleck, auf dem „Polen“ stand. Die pitoresk verklärte Vergangenheit der ehemals deutschen Ostgebiete, die die Heimatvertriebenen verbreiteten, galten mit den dazugehörigen Rückübertragungsansprüchen als obsolet.

Es brauchte erst polnische, ins Deutsche übersetzte Autorinnen wie die in Schlesien geborenen Olga Tokarczuk und wie Joanna Bator, um diese weißen Flecken wieder mit zeitgemäßem Leben zu versehen.

Nach dem Nobelpreis für Literatur für Olga Tokarczuk ist Joanna Bator ein bisschen aus dem Blickfeld geraten. Dabei hatte die im niederschlesischen Wałbrzych, dem ehemaligen Waldenburg, geborene und aufgewachsene Autorin 2011 mit „Sandberg“ in Deutschland Furore gemacht. Der Roman handelt von der prekären Kindheit und Jugend eines Mädchens in einer Plattenbausiedlung am Rand einer schlesischen Kleinstadt.

Auch ihr neuer Roman, „Bitternis“, spielt im niederschlesischen Bergbaugebiet. In einer Art familiärer Tiefenbohrung erzählt Bator hier kapitelweise von vier Frauen aus vier Generationen einer Familie. Im ersten und im letzten Kapitel rahmt eine Ich-Erzählerin die Familiengeschichte ein.

Joanna Bator: „Bitternis“. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes. Suhrkamp, Berlin 2023. 829 Seiten, 34 Euro

Sie erklärt, mit Kalina, der jüngsten der vier Frauen, identisch zu sein. Deutlich macht Bator das auch dadurch, dass sie in den Kapiteln über Kalina immer wieder ein „ich“ statt das „sie“ verwendet.

Sehnsucht nach der großen Welt

Berta Koch ist die deutsche Urgroßmutter von Kalina. Sie wird um 1920 herum geboren und wächst allein bei ihrem Vater auf, nachdem ihre Mutter im Kindbett gestorben ist. Die Familie betreibt eine Fleischerei, dessen Wurstprodukte besonders in einem nahe gelegenen Lungensanatorium auf große Beliebtheit stoßen. Berta ist dabei nicht nur voll in die Arbeit des Vaters eingespannt, sondern vollständig darin gefangen.

Ihr Leben als Frau eines Fleischers, den der Vater bereits ausgesucht hat, ist ihr dabei vorherbestimmt. Dabei sehnt sie sich, wie Kalina aus ihrem Tagebuch erfährt, nach der großen Welt, nach Freiheit und Liebe und träumt davon, mit einem jungen fahrenden Händler, von dem sie schwanger wird, nach Prag durchzubrennen.

Es ist, als befände man sich in Michael Hanekes Film „Das weiße Band“. Auch in „Bitternis“, wie bei Hane­ke, führt die väterliche Strenge, verbunden mit den gesellschaftlichen Zwängen, zu Gewalt und in die Katastrophe: Berta ermordet ihren Vater. Eine Tat, die es nicht nur bis in die New York Times brachte, sondern die Familien­ge­schich­te, wie Kalina herausfindet, bis in die Gegenwart prägt.

1939 stirbt Berta Koch, wie schon ihre Mutter, bei der Geburt eines Mädchens im Gefängniskrankenhaus. Es wird auf den Namen Barbara getauft und muss die ersten Jahre im Waisenhaus zubringen. Kurz nach Kriegsende hat die Großmutter von Kalina dann Glück, und das Ehepaar Serce adoptiert sie.

Leben in den Bloodlands

Doch die neuen Eltern kommen auch aus den „Bloodlands“, wie Timothy Snyder das heutige Gebiet der Ukrai­ne, Weißrusslands und Polens wegen der ständigen Vertreibungen und den Millionen von Toten im 20. Jahrhundert nennt. Auch die Serces haben während des Zweiten Weltkriegs schreckliche Erfahrungen gemacht, wurden nach dessen Ende aus der Ukraine in den ehemals von Deutschen bewohnten Ort nach Schlesien deportiert.

Man könnte meinen, all das Elend und Leid würde den Leser schnell frustrieren und „Bitternis“ zur Seite legen lassen. Aber Bator gelingt es, ihren mit 800 Seiten opulenten Roman geschickt so aufzubauen, dass das Interesse an der Geschichte nie erlahmt. Vor allem aber haucht sie ihren Figuren nach all dem Schrecken und der Gewalt immer wieder Menschlichkeit ein.

Während die New York Times Berta Koch als „Monster Woman“ bezeichnet, erfährt Kalina aus den Tage­büchern ihrer Urgroßmutter, wie sie geliebt und gelitten hat. Und wenn ihre Tochter Barbara zwar ein Leben lang ihren Ängsten ausgeliefert war und ihre eigene Tochter Violetta nie lieben konnte, so wird sie für ihre Enkelin zur wichtigsten Bezugsperson, „die mich liebte und mit der Beharrlichkeit und Kraft eines Rhinozeros beschützte“.

Selbst die immer wieder von Bator erzählten Versuche von Kalinas Mutter ­Violetta, ihre absurden Träume von einem aufregenden Leben, von dem sie glaubt, dass sie es nur mit Hilfe von immer neuen Männern verwirklichen kann, langweilen nicht. Violetta, die nie in die Rolle der Mutter findet, die jahrelang nicht anwesend ist und ihre Tochter bei Barbara zurücklässt.

Von Traumata emanzipieren

Kalina, die in vielem wohl nicht nur mit der Ich-Erzählerin, sondern in Einzelheiten auch mit der Autorin identisch ist, wird die Erste sein, die ein selbstbestimmtes Leben führen und sich ein Stück weit von den Traumata ihrer Familie emanzipieren kann, auch wenn sie sie nie ganz los wird. Was ihr dabei hilft, ist die Recherche und das Erzählen ihrer Familiengeschichte, von der sie am Anfang so gut wie nichts weiß.

Dabei kommt es ihr nicht auf historische Details an; die beschriebene Gewalt und Unterdrückung könnte so erzählt auch woanders stattgefunden haben. „Bitternis“ ist deshalb auch kein schlesischer Heimatroman, sondern ein Roman aus der Provinz, dessen Welthaltigkeit unter anderem dadurch entsteht, dass er in der Lage ist, auch für Leser außerhalb Polens den weißen Fleck, der Schlesien für viele auf der Landkarte immer noch ist, wieder mit Leben zu versehen.

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