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Tagestreffs für obdachlose MenschenEine Bleibe nur nachts reicht nicht

Viele Notunterkünfte sind nur nachts geöffnet, für ganztägige Einrichtungen gibt es kein Geld. Gleichzeitig lässt der Bezirk Obdachlosencamps räumen.

Wären vermutlich lieber im Warmen: Menschen ohne Obdach am Alexanderplatz Foto: Sophie Kirchner

Berlin taz | „Weil er kein Handy hat, können wir ihn nicht mehr erreichen“, sagt Tino Kretschmann über einen obdachlosen Menschen, der verschwunden ist.

Kretschmann arbeitet als Straßen-Sozialarbeiter für den Träger Gangway. „Anderthalb Jahre hatten wir mit ihm gearbeitet, Beziehungsarbeit geleistet, ihm das Leben auf der Straße leichter gemacht, er war offensichtlich psychisch erkrankt“, sagt Kretschmann. Dann ließ der Bezirk Mitte Plätze von obdachlosen Menschen spontan räumen. „Jetzt wissen wir nichts mehr von ihm“, sagt Kretschmann.

Gangway prangert daher den Umgang mit obdachlosen Menschen in Berlin an. Gemeinsam mit dem Zusammenschluss AG Straße fordert der Träger deshalb einen zentralen Tagestreff für Obdachlose am Alexanderplatz. Dort sollen sie tagsüber unterkommen, essen, duschen und sich aufwärmen können. Das könne Räumungen vorbeugen und die Arbeit mit den Menschen erleichtern. „Alternative Aufenthaltsmöglichkeiten“ für „adäquate Unterstützung“ fordert die AG Straße.

Laut Senatsverwaltung für Soziales gab es im Jahr 2023 zwölf Wohnungslosentagesstätten. Zu wenig, findet Tino Kretschmann. „Die Angebote, die es aktuell gibt, können den großen Bedarf nicht mal ansatzweise decken“, sagt er. Es gebe insgesamt zu wenige und zu kleine Tagestreffs in Berlin. „Die Politik muss aufwachen und einsehen, dass diesen Menschen wenigstens ein geschützter Tagesaufenthalt geboten werden muss“, fordert Kretschmann. „Das gesellschaftliche Klima gegen prekäre und vulnerable Gruppen wird immer schlimmer. Es geht hier um die Ärmsten und oft ums reine Überleben. Wer sich dafür nicht interessiert, riskiert Menschenleben.“

Weniger Obdachlosigkeit, weniger Gewalt

Tatsächlich steigt die Gewalt: Im Jahr 2024 registrierte der Senat 506 Gewalttaten gegen obdachlose Menschen. Darunter fallen drei in die Kategorie Mord und Totschlag. Das geht aus einer Anfrage der Abgeordneten Niklas Schrader und Anne Helm (Linke) hervor. Mit 132 wurde die Mehrheit der Gewalttaten im Bezirk Mitte begangen.

Um die Menschen zu schützen, setzt der Senat auf Gewaltprävention. Er will nach eigenen Angaben Wohnraumverlust verhindern, Hilfen bei der Wohnungssuche bereitstellen und so die Vulnerabilität verringern.

„Alles, was Obdachlosigkeit reduziert, wird auch die Gewalt an obdachlosen Menschen reduzieren“, sagt Niklas Schrader der taz. „Notunterkünfte, Tagestreffs, mobile Angebote. Aber mit der Kürzungspolitik des Senats sieht das schwierig aus. Im Moment sind viele Angebote von der Schließung bedroht“, kritisiert er.

Auch aus Sicht der AG Straße bräuchte es viel mehr Angebote, um die Menschen zu schützen. Notunterkünfte, in denen obdachlose Menschen übernachten können, sind grundsätzlich nur nachts geöffnet. Die Zeit zwischen ihren Öffnungszeiten sollte aus Sicht von Kretschmann deswegen von den Tagestreffs abgedeckt werden. Er findet: „Solche Angebote braucht man in jedem Stadtteil.“ Auf ganz Berlin gerechnet wären das 96 Stück.

Modell Hofbräuhaus

Auch Katina Schubert, Sprecherin für Soziales der Linksfraktion, sagt: „Wichtig ist, dass Menschen auf der Straße Anlaufpunkte haben, wo sie sich aufhalten können, sich hygienisch versorgen und verpflegen können und Zugang zu Beratung und Coaching bekommen, um ihre persönliche Lebenssituation ändern zu können.“ Sie findet es ebenfalls wichtig, dass jeder Bezirk ausreichend soziokulturelle Infrastruktur hat, „damit Menschen jeden Alters sich treffen können“.

Auf Anfrage der taz sagt Carsten Spallek, CDU-Bezirksstadtrat für Soziales und Bürgerdienste in Mitte: „Mir und dem gesamten Amt für Soziales ist die Bedeutung eines zentralen Tagestreffs am Alexanderplatz beziehungsweise in dessen unmittelbarer Nähe bewusst.“ Trotzdem: „Die Einrichtung des geforderten Tagestreffpunktes ist im Bezirkshaushalt nicht abbildbar.“ Im Klartext bedeutet das: Dem Bezirksamt Mitte fehlt das Geld dafür.

Dabei hat das Hofbräuhaus am Alexanderplatz vorgemacht, wie wichtig und sinnvoll ein Tagestreff dort ist. Bis April 2023 hat das Gasthaus warme Mahlzeiten, Kleidung und Beratung für obdachlose Menschen angeboten. „Das wurde extrem gut angenommen. 360 Menschen haben diese Angebote täglich genutzt“, sagt Kretschmann. Der Tagestreff wurde durch den Senat und die EU finanziert. Allerdings wurde die Finanzierung 2023 eingestellt.

„Es braucht Orte im öffentlichen Raum, in denen es akzeptiert ist, dass sich obdachlose Menschen dort aufhalten“, fordert Schrader. Er kritisiert dabei auch das konkrete Vorgehen der Bezirke. „Die absolut konzeptlosen Räumungen führen nur zu Vertreibung. Sie bringen nichts.“

Rabiate Räumungen

Der Bezirk Mitte begründet die spontanen Räumungen mit „Gefährdungslagen“: „Insbesondere in der Nähe kritischer Infrastruktur wie Brücken oder Bahntrassen geht von Obdachlosen-Camps eine nicht unerhebliche Gefährdungslage aus“, so Carsten Spallek zur taz. Die Räumung erfolge in Einzelfällen auch zeitnah und „unabhängig von einer vorherigen Betreuung durch die mobile Sozialarbeit“.

Katina Schubert kritisiert die „rabiate Räumungspraxis“ des Bezirks: „Das führt nur zu Verdrängung, aber zu keiner einzigen Lösung.“

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1 Kommentar

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  • Eine Tagesunterkunft für Obdachlose ist nicht finanzierbar -- aber für Aufrüstung und Krieg werden "Sondervermögen" aufgelegt, als ob das Geld auf Bäumen wüchse.