Tagebuch aus Lützerath (4): Ab hier ist nichts mehr planbar
Der Bagger kommt immer näher. Die Besetzer:innen sprechen vom „Tag X“. Barrikaden stehen plötzlich im Weg. Nichts ist mehr wie es war in Lützerath.
I ch fahre nach Lützerath. Es ist das fünfte oder sechste Mal, seit die Besetzung vor zwei Jahren begonnen hat. Für gewöhnlich bin ich ohne konkrete Absichten hierhergekommen. Ich wollte einfach hier sein und diesen Ort erleben, an dem sich so viele Fragen über unser aller Zukunft entscheiden könnten.
Aber an der Zugfahrt nach Erkelenz, der Busfahrt durch die Dörfer bis Holzweiler und dem dreißigminütigen Fußweg nach Lützerath fühlt sich nichts vertraut an. Vielleicht weil die Menschen hier am Dienstag den „Tag X“ ausgerufen haben. „Wenn du nicht klettern willst, gibt es auch einen Weg außen rum“, sagt jemand, als ich ratlos vor einer Barrikade stehe.
Der aktuelle Einsatz der Polizei dauert nun bereits über 24 Stunden. Sie stehen an den Dorfeingängen und sichern die Arbeit der Räumungsfahrzeuge. Bagger graben das Gelände um, Kipplaster bringen alles weg, was im Weg ist. Aus anderen Räumungssituationen weiß ich: Ab hier ist nichts mehr planbar. Wie lange könnte es dauern? Wie lange werden wir hier sein? Werden vielleicht doch immer mehr Menschen innehalten und denken: Wann haben wir es eigentlich so weit kommen lassen?
Mein letzter Aufenthalt in Lützerath liegt ein paar Wochen zurück. Damals waren Gespräche über eine Räumung noch Zukunftsmusik. Während ich nun wieder die Straßen entlanglaufe, die das Dorf umgeben, kommt mir ein naiver Gedanke: „Der Bagger ist ja schon wieder näher gekommen, bald können wir drauf spucken.“
Ein sicheres Zuhause zu haben ist Zufall
In 15 Minuten hat man das Dorf einmal umrundet. Raus sollte man nicht mehr einfach gehen. Man sagt mir: „Da hinten steht Polizei. Ich weiß nicht, was die machen, wenn sie sehen, dass hier Leute rauslaufen.“ Ich gehe an der Abbruchkante entlang. Was lässt mich am Streben nach Klimagerechtigkeit festhalten? Nicht viele Dinge rütteln einen so auf wie der Blick auf einen Kohletagebau, dessen Ende man am Horizont nicht ausmachen kann.
So richtig dunkel wird es hier nachts nicht mehr. Die Flutlichter der Kohlebagger scheinen mittlerweile in jedes Haus. Ich gehe mit dem Gedanken schlafen, dass ich lieber weit weg in meinem sicheren Zuhause wäre. Ein Zuhause, das jedoch unter anderem deswegen sicher ist, weil es zufällig nicht auf Kohlevorkommen steht.
🐾 Das Tagebuch „Countdown Lützerath“ entsteht mit finanzieller Unterstützung der taz Panter Stiftung.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Thüringen
Das hat Erpresserpotenzial
Friedenspreis für Anne Applebaum
Für den Frieden, aber nicht bedingungslos
BSW in Sachsen und Thüringen
Wagenknecht grätscht Landesverbänden rein
Rückkehr zur Atomkraft
Italien will erstes AKW seit 40 Jahren bauen
Klimaschädliche Dienstwagen
Andersrum umverteilen
Tech-Investor Peter Thiel
Der Auszug der Milliardäre aus der Verantwortung