Tagebuch aus Georgien: Die zu vielen Augen von Tblisi
In der georgischen Hauptstadt kommt eine beängstigende Überwachungstechnik zum Einsatz. Sie dokumentiert nicht nur, wer auf eine Demonstration geht.

E ines späten Abends, erschöpft vom politischen Chaos und der bedrückenden Atmosphäre in den Medien, fuhr ich ziellos mit dem Auto durch die Stadt Tbilisi. Ich gelangte in einen neuen Park am Rande der georgischen Hauptstadt. Es ist der größte Stadtpark – eine riesige Grünfläche, in der sogar ein Bach läuft. Ein beeindruckender Ort, eingezwängt zwischen grauen sowjetischen Hochhäusern.
Alle zehn Meter starrten Kameras von den Laternenpfählen. Made in China. Ich wurde das Gefühl nicht los: Tat ich etwas Verdächtiges? Wie sollte man sich in einem Park verhalten, um für jemanden, der durch das Videoüberwachungssystem zusieht, nicht seltsam zu wirken? Ich streckte meinen Rücken, hob mein Kinn und ging weiter in Richtung der Rustaveli Avenue im Stadtzentrum.
Hier, in der Rustaveli Avenue, füllen seit mehr als 200 Tagen Demonstrant:innen diese Prachtstraße. Sie sind hier, weil nach der Auszählung fast aller Stimmen für die Parlamentswahl die Wahlkommission die Regierungspartei Georgischer Traum mit 53,9 Prozent der Stimmen zur Siegerin erklärt hatte.
Kürzlich wurden auf der ganzen Länge der Rustaveli Avenue neue Kameras mit Gesichtserkennungstechnik installiert. Ganz offensichtlich geschah das nicht zur Überwachung des Straßenverkehrs, sondern zur Überwachung der Proteste.
Mit Überwachungstechnologie alles kontrollieren
Die Kameras können das Bild um das 45-Fache vergrößern. Sie kommen von dem chinesischen Unternehmen Dahua, dessen Produkte in den USA als Sicherheitsrisiko verboten sind.
Die Gesichtserkennungstechnologie erkennt nicht nur, wer da geht und kann das Alter und die Identität bestimmen. Nein, sie identifiziert auch Emotionen wie Angst, Wut und Verwirrung. Die Kameras können automatisch ihre Ziele verfolgen. In einem von Menschenrechtsaktivist:innen veröffentlichten Video zoomt die Kamera heran, während ein Demonstrant ein Plakat liest. Jedes Wort ist zu erkennen.
Das Innenministerium erklärt nie, wie es die Personen identifiziert hat, die in sein Visier geraten sind. Die meisten sind keine Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, und sie sind auch nicht unbedingt in sozialen Netzwerken aktiv. Sie sind einfach nur auf die Straße gegangen, um zu protestieren.
Und dann werden sie bestraft. Etwa wegen „Blockade der Straßen“ werden meistens 5.000 Lari (1.500 Euro) Strafe verhängt. Und das in einem Land, in dem der durchschnittliche Nettolohn bei 1.700 Lari (560 Euro) liegt.
Einige Demonstrant:innen sind jetzt dazu übergegangen, Masken, Sonnenbrillen oder sogar Karnevalskostüme zu tragen. Dies ist der verzweifelte Versuch, sich vor dem allsehenden digitalen Auge des Staates zu verstecken.
Wohin steuert Georgien? Auf den chinesischen Weg der totalen Überwachung? Auf das russische Modell der Angst und Repression? Oder auf beides? Die georgische Strategie lautet: Der Staat muss die Menschen gar nicht zum Schweigen bringen. Es reicht, sie so genau zu beobachten, dass sie von selbst verstummen.
Tornike Mandaria lebt und arbeitet als Journalist in Tbilisi. Er war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Aus dem Russischen von Tigran Petrosyan.
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