piwik no script img

Tagebuch aus ArmenienWie der High-Heel-Dance nach Jerewan kam

Armenien ändert sich. Nicht zuletzt durch Russ:innen, die einwandern. Plötzlich gibt es Hundesalons, Skilifts und einen sehr merkwürdigen Tanz.

High Heels warten darauf, bei einem Wettrennen ihre Modernität zu beweisen Foto: Japaridze/ap

A r­me­nie­r:in­nen werden in Russland oft abfällig als „Kreuz“ bezeichnet, sie gelten als „schwarzarschig“. Dennoch ist Russland seit Jahrzehnten das beliebteste Ziel armenischer Migrant:innen. Schätzungen zufolge leben rund 1,5 Millionen Ar­me­nie­r:in­nen in Russland. Das ist die Hälfte der in Armenien lebenden Bevölkerung.

Nach dem Beginn des russischen Kriegs in der Ukraine hat sich dieses Migrationsmuster jedoch gewandelt, und zwar dramatisch. Man nennt es „weißen Strom“. Es ist das Phänomen, dass plötzlich auch Rus­s:in­nen nach Armenien kommen. Das veränderte nicht nur die wirtschaftliche Lage Armeniens, sondern auch sein kulturelles Gesicht. Das fängt bei den Speisekarten in Restaurants an, auf denen nun „slawische“ Gerichte stehen. Das zeigt sich auch im Unterhaltungs- und Sportbusiness. Und es geht hin zu Aktivitäten, die für die armenische Gesellschaft bis dahin völlig unbekannt waren.

Die 38-jährige Lilit aus Jerewan versuchte vor drei Jahren, mit Hilfe eines Psychologen die Folgen einer postpartalen Depression zu überwinden. Das Singen im Kirchenchor war ihr einziger Trost geworden, mit dem sie versuchte, ihre Familie zu retten. In einer Therapiesitzung riet die Psychologin Lilit zum Tanzen, weil sich so körperliche Verspannungen lösen können.

Wo es Brot gibt, gibt es auch ein Dach über dem Kopf.

Armenisches Sprichwort

Als Lilit in Jerewan nach einer Tanzgruppe in ihrer Nähe suchte, stieß sie auf eine interessante Anzeige. Ein neu eröffnetes Tanzstudio mit einer russischen Choreografin suchte 12 Frauen für etwas ganz Neues. Seltsam war nicht, dass getanzt wurde, sondern wie: „High Heels Dance“. Für Ar­me­nie­r:in­nen ist das ein kompett neues Phänomen. Es ist ein Tanz, der dem Striptease sehr ähnlich ist: sinnlich und gewagt, geschmeidig und ästhetisch – nur dass man sich hier nicht auszieht. Lilit erzählt, dass ihr schon der Gedanke an diesen Tanz zu gewagt erschien. Nicht einmal ihrem Mann mochte sie davon erzählen. Aber sie beschloss, es zu versuchen.

In den vergangenen drei Jahren haben russische Mi­gran­t:in­nen in Armeniens Hauptstadt Jerewan sieben High-Heels-Danceclubs eröffnet. Lilit sagt, sie stünden nicht nur für eine neue Tanzkultur, sondern auch für eine neue Denkweise: Armenische Frauen müssten lockerer und flexibler werden, sie müssten das Leben mutiger angehen – und auch ab und zu mal freundlicher sein.

Es ist nicht nur das Tanzen auf High Heels, das die Rus­s:in­nen mitgebracht haben. Während ich diesen Text schreibe, kommt meine Schwiegermutter mit unserem Hund William nach Hause, der an diesem Tag baden gegangen war. Es stellt sich heraus, dass sein Friseur ebenfalls ein Russe ist. Tierpflegesalons, Tierkliniken und sogar ein Hotel für Hunde gibt es neuerdings. Auch das sind Geschäftsideen russischer Migrant:innen, die in Armenien verwirklicht werden.

Davon gibt es noch mehr: Die wenigen Motorradschulen, die erst vor drei bis vier Jahren schließen mussten, sind wieder geöffnet. Russische Mi­gran­t:in­nenen melden sich an und lernen zu fahren.

Oder Skilaufen. Obwohl Armenien ein Gebirgsland ist, sind die Winter hier sehr mild, und es schneit nicht so oft. Wer Skifahren will, begab sich bislang meist ins benachbarte Georgien. Doch in diesem Jahr wurden in Armenien große Skigebiete mit Pisten und Lifts eröffnet. Auch hier besteht die überwiegende Mehrheit der Kun­d:in­nen aus russischen Migrant:innen.

Die Armenier haben ein schlechtes Sprichwort: „Wo es Brot gibt, gibt es auch ein Dach über dem Kopf.“ Dieses Sprichwort, das den Menschen als rein biologisches Wesen beschreibt, trifft hier zu. Nach dem russischen Krieg in der Ukraine haben russische Mi­gran­t:in­nen in Armenien sprichwörtlich ihr eigenes Brot gebacken.

Trotz Tod, Vertreibung, Hass und der unerträglichen Katastrophe in der Ukraine kann ein Krieg manchmal auch solche Spuren hinterlassen.

Sona Martirosyan ist Journalistin und lebt in Jerewan (Armenien). Sie war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung

Aus dem Armenischen von Tigran Petrosyan.

Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 17. April 2025

Liebe Kommune,

wir machen Osterpause – die Kommentarfunktion bleibt für ein paar Tage geschlossen. Ab dem 22.04.2025 sind wir wieder für euch da und freuen uns auf spannende Diskussionen.

Genießt die Feiertage 🐣🌼