Tagebau in Sachsen: Eine Welt aus Resten und Ideen
In vom Bergbau gehäuteten Landschaften Sachsens trifft unsere Autorin Menschen, die trinken und träumen. Und denkt an Gedichte von Wolfgang Hilbig.
Am Abend spielt Deutschland im Viertelfinale gegen Spanien und der Marktplatz böte genug Platz, um die Groitzscher*innen vor einer Videoleinwand zusammenzubringen. „Ach“, sagen die Männer auf der Bank und winken ab, bevor sie ihr Bier ansetzen. „Nüscht los.“
Dieser Text ist Teil der Serie „Überlandschreiberinnen“. Die drei Schriftstellerinnen Manja Präkels, Tina Pruschmann und Barbara Thériault dokumentieren unter diesem Namen ihre Reisen durch Ostdeutschland im Sommer 2024. Das Projekt wird koordiniert von der Uni Leipzig und finanziert von der VW Stiftung. Die taz veröffentlicht die Texte im Rahmen der Berichterstattung zu den Wahlen 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen.
Ich schließe mein Rad an, setze mich zu ihnen und schaue über den Platz in die schnurgerade Bahnhofsstraße hinein. Der zur Bahnhofstraße gehörende Bahnhof liegt längst still. Bereits in den späten 1950er Jahren begann der Braunkohlebergbau, die Bahntrassen im Leipziger Süden zu verschlingen. Jede verlorene Schiene dimmte die Bedeutung des einstigen Bahnknotenpunktes, bis 1998 die Groitzscher Lichtsignale endgültig erloschen. Einer der Männer, die sich auf dem Marktplatz treffen, ist Ritschardas. Seine Kumpels nennen ihn den „Ausbilder“.
Ende der 90er war er am Aufbau eines Sägewerkes in Rumänien beteiligt und auch jetzt noch ist der Tischlermeister viel unterwegs. Gerade kommt er aus Albanien zurück. Er ist getrampt, weil ihm das Geld für den Rückflug fehlte. Ritschardas kennt nicht nur fast alle Brücken dieser Welt, sondern hat sich auch in fast jeder europäischen Hauptstadt schon einmal die Haare schneiden lassen.
Geschichte erzählen im 360-Grad-Panorama
Für die Kumpels hat der Ausbilder immer was zu tun. Projekte, wie sie sagen: ein Billardzimmer herrichten, einen Grillplatz bauen oder ein Floß, das Ritschardas einst von der Schnauder über die Weiße Elster, die Saale und die Elbe bis zum Atlantik bringen sollte. „Alles gemacht aus Resten und Ideen“, sagt er.
Zurück am Schreibtisch blättere ich in einem Gedichtband von Wolfgang Hilbig. Der Autor aus dem nahegelegenen Meuselwitz schreibt über die Tagebaulandschaften im Leipziger Süden, über „Das Meer in Sachsen“
rauch atmet die sonne und ich/ bin ein wahnsinniges kind man erlaube mir/ das violette distelfeld eines spätsommers zu verwüsten/ zu stampfen im bach mit einer haut von kohlestaub
Ich denke an Ritschardas – das wilde Kind –, den es, wäre er mit seinem Floß in Großstolpen rechts abgebogen, nach Pödelwitz verschlagen hätte – ein Dorf, in dem auch gerade eine Welt aus Resten und Ideen entsteht und von dessen Kirchturmspitze aus sich die Geschichte der Leipziger Tieflandsbucht in einem 360-Grad-Panorama erzählen ließe: Da ist im Westen ein an das Dorf grenzendes sattgelbes Weizenfeld, das das Herz von Landwirt Jens Hausner höherschlagen lässt: „Hier ist kein Kohlebagger durchgekommen. Das ist fruchtbarer Boden, wie er seit der letzten Eiszeit gewachsen ist.“
Pödelwitz, ein Dorf, das bleibt
Auf dem Pödelwitzer Friedhof erinnert eine Grabsteingravur an die bäuerliche Vergangenheit der Region vor der Kohle: Sie zeigt zwei Ackergäule, einer wendet sich dem leeren Pflug zu. Der Bauer fehlt.
Schwenkt man von dem üppigen Weizenfeld im Uhrzeigersinn nach Nordost rücken die beiden Kühltürme des Kraftwerks Lippendorf in den Blick. Weithin sichtbar, Wegmarken der Region. Ihre Rauchsäulen zeigen den Radfahrer*innen, ob sie mit oder gegen den Wind fahren. Weiter östlich unweit der Kraftwerkstürme erstreckt sich der Tagebau Vereinigtes Schleenhain. Es ist eine Landschaft wie gehäutet.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Dahinter in der Ferne lassen sich die Seen der rekultivierten Bergbauflächen erkennen. „Ein rekultivierter Boden wird viele Generationen brauchen, um wieder so fruchtbar zu sein, wie die Lehm-Löss-Böden hier einst waren“, sagt Jens Hausner, der für die Grünen im Groitzscher Stadtrat sitzt. In den vergangenen 100 Jahren musste im Leipziger Süden bis auf größere Ortschaften und den wichtigsten Verkehrstrassen alles dem Bergbau weichen. Zuletzt drohte auch Pödelwitz die Abbaggerung.
2012 unterzeichneten die Stadt Groitzsch und die Mitteldeutsche Braunkohlegesellschaft AG (Mibrag) einen Umsiedlungsvertrag, aber bereits zuvor hatte die Mibrag die Pödelwitzer*innen mit attraktiven Angeboten motiviert, ihre Häuser und Höfe zu verkaufen. Diejenigen, die bleiben wollten, gründeten die Initiative Pro Pödelwitz und wappneten sich juristisch gegen die Umsiedlung.
Ihr Argument: Die Abbaggerung von Pödelwitz war im Braunkohleplan für diesen Tagebau nie vorgesehen. Nachdem die Proteste der verbliebenen Dorfbewohner*innen und zwei Klimacamps im Jahr 2018 und im Sommer vor der Landtagswahl 2019 den öffentlichen Druck erhöht hatten, vereinbarten die Koalitionspartner der neuen Landesregierung den Erhalt des Dorfes.
Häuser, die den Eindruck vermitteln, sie seien bewohnt
Von ehemals 134 Einwohner*innen leben noch 35 Alteingesessene in der Gemeinde. Zu ihnen gesellen sich Klimaaktivisten, die geblieben sind, weil sie in Pödelwitz ihrer Utopie einer postkapitalistischen, klimagerechten Welt einen Ort geben wollen. Auch sie sind wilde Kinder.
Wer nach Pödelwitz kommt, dem fallen die vielen Immobilien auf, die im wuchernden Grün versinken während Gardinen an den Fenstern und Kunstblumen auf den Fenstersimsen den Eindruck vermitteln, sie seien bewohnt. An den Fassaden klebt das Schild, das die Häuser als Eigentum der Mibrag ausweist. Eine Rückveräußerung, die Grundlage für eine Neuentwicklung des Dorfes wäre, plant das Bergbauunternehmen derzeit nicht. In Pödelwitz, einem Ort, in dem 80 Prozent der Immobilien leer stehen, finden Zuzugswillige kein Obdach.
Ich frage die Klimaaktivistin Antonia Delbrück, wie sie sich die künftige Dorfgemeinschaft vorstellt: „Wir wollen mit lokalen Betrieben wirtschaften, regionale Landwirtschaft betreiben, Solarenergie erzeugen. Vielleicht basiert unser Zusammenleben auch auf einem Austausch je nach Fähigkeiten und Bedürfnissen: Ich gebe was ich kann und bekomme, was ich brauche.“
Erste Gewächse dieser Utopie sind ein Gemeinschaftsgarten, Obstbäume und ein Haus, dessen Wände die Aktivist*innen Strohballen auf Strohballen hochziehen – Füllung, Dämmung und Putzträger aus nachwachsendem Rohstoff. Wilde Kinder. Oder sind nicht doch diejenigen die Wahnsinnigen, die ungläubig auf Utopien wie diese schauen, die in den Bach stampfen mit einer Haut aus Kohlenstaub und die Distelfelder verwüsten? Die blühen dieser Tage bereits Mitte Juli, nicht erst im Spätsommer.
Ritschardas hat mit seinem Floß den Atlantik nicht erreicht. Nach ein paar Kilometern, am Wehr in Audigast, wurde es schwer, sagt er. War seine Fahrt dort zu Ende, frage ich. „Nein“, beteuert er. Ein Jobangebot aus Österreich habe damals seine Pläne durchkreuzt. Spätere Weiterreise nicht ausgeschlossen.
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