Syriens Rebellenchef Mohamed al-Jolani: In Syrien euphorisch als Befreier gefeiert
Mohamed al-Jolani hat die HTS-Rebellen zum Sieg über Baschar al-Assad geführt. Wer ist der Mann, der vom Islamisten zum Hoffnungsträger geworden ist?
Man werde der vom Assad-Regime hinterlassen Willkür Gesetz und Ordnung entgegensetzen, so Ahmed al-Sharaa. In den ersten Live-Übertragungen des syrischen Fernsehens am Sonntagmorgen gab er seinen Kämpfern drei konkrete Anweisungen: „Schießt auf niemanden, der die Waffen niederlegt. Betretet keine Häuser, verfolgt niemanden, der flieht.“
In einem dem US-Nachrichtensender CNN in Aleppo gegebenen Interview versprach der HTS-Anführer Kurden, Regimeanhängern und Christen die gleichen Rechte wie sunnitischen Syrern. Nachdem Baschar al-Assad in der Nacht auf Sonntag mit einer Iljuschin-Maschine das Land verlassen hatte, versprach al-Sharaa, die staatlichen Institutionen in Damaskus vorläufig dem seit drei Monaten amtierenden Premierminister Mohammad Ghazi al-Jalali zu überlassen.
Doch nicht alle sind von dem zivilen Antlitz der seit 2011 kämpfenden Rebellenbewegung überzeugt. Nachdem die HTS-Einheiten von Ahmed al-Sharaa Aleppo erobert hatten, verließen ethnische Minderheiten in langen Autokonvois aus Angst vor den radikalen Elementen in den Reihen der Rebellen die Stadt. Denn der Name Abu Mohamed al-Jolani war lange Zeit auch in dem von ihm kontrollierten Idlib gefürchtet.
Haft im berüchtigten Abu-Ghrib-Gefängnis
2003 kämpfte er für al-Qaida im Irak, die damals von Musa Zarqawi geführt wurde. Bis 2013 war al Nusra mit dem „Islamischen Staat“ verbündet. Nach seiner Verhaftung 2006 landete al Sharaa im berüchtigten Abu-Ghrib-Gefängnis. In Syrien gründete er mit Beginn des Aufstandes gegen Baschar al-Assad 2011 die Nusra-Front, eine islamistische Gruppe mit Al-Qaida-Ideologie, die sie 2016 offiziell ablegte. Doch bis vor Kurzem setzten die Al-Nusra-Kämpfer und ihre Nachfolger mit Gewalt strenge Scharia-Regeln durch.
In Idlib, der über Jahre letzten Enklave der Regimegegner, wird die Blitzoffensive der HTS daher mit Hoffnung und Bangen gesehen. Der Ingenieur Mohamed, seinen Nachnamen will er nicht veröffentlicht sehen, war einer von Sharaas Opfern. Er berichtet der taz am Telefon von den Monaten, die er in Idlib in einem der vielen Gefängnisse saß, die von den Islamisten betrieben wurden. „Damals zwangen sie Männer dazu, Bärte zu tragen, Musik war verboten. Wir lebten nach Scharia-Gesetzen.“ Erst in den letzten beiden Jahren weichte die HTS-Führung die Regeln auf.
Mohamed glaubt jedoch, dass der Wandel al-Sharaas authentisch ist. „Ich begrüße den Sieg über die Regierungsarmee, das Assad-Regime musste endlich fallen. Die Zukunft wird zeigen, ob der Wandel von al-Jolani zu al-Sharaa echt ist.“
In Idlib und im befreiten Aleppo gibt es immerhin Anlass zu Hoffnung. Die Verwaltungsstruktur in Idlib arbeitet relativ autonom, nach der Eroberung von Aleppo forderte al-Sharaa auch regimetreue Beamte auf, an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Schon nach wenigen Tagen waren nur wenige bewaffnete Milizionäre auf den Straßen zu sehen. Racheaktionen an politischen Gegnern sind bisher tatsächlich die Ausnahme.
Als Kämpfer der Syrischen Nationalarmee (SNA), einer von der Türkei finanzierten Anti-Kurden-Miliz, die Enthauptung eines 15-Jährigen veröffentlichten, kündigte er die Bestrafung der mit HTS verbündeten Kämpfer an. Anekdoten über ihn haben den Ruf der HTS in den letzten Jahren geprägt. Als SNA-Einheiten in Afrin einen Kurden umbrachten, drohte er mit einem Einmarsch, sollten seine Verbündeten die Täter nicht den Familien des Opfers ausliefern.
Al-Sharaas Eltern sind Flüchtlinge und stammen aus dem kleinen Dorf Jubyen im Bezirk al-Qunaitra auf den von Israel besetzten Golanhöhen. Wie seine vier Brüder und seine Schwester wurde er in Riad in Saudi-Arabien geboren und hat mindestens die ersten acht Jahre seines Lebens dort verbracht. Daher spricht er Arabisch mit Golfakzent. Seine Familie zog später in den Bezirk al-Mazzeh in Damaskus, in dem einer seiner Brüder als Arzt arbeitete. In der gutbürgerlichen Gegend ließen sich viele Kommandeure der iranischen Revolutionsgarden und Hisbollah-Funktionäre nieder. Daher fielen hier in den letzten Jahren immer wieder israelische Bomben.
Die durch das Assad-Regime unterstützte illegale Übernahme von Häusern in al-Mazzeh war einer der Gründe für Jolanis Widerstand, und sie sind auch ein Vorbote der kommenden gesellschaftlichen Konflikte nach dem Sturz von Assad.
„Offene Rechnungen“
„Die derzeitige Euphorie sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Syrien nach Assad viele offene Rechnungen geben wird“, sagt Lawand Kiki vom Syria Reporting Center, das Kriegsverbrechen in dem seit 2011 andauernden Bürgerkrieg dokumentiert. „Daher wollte die HTS-Allianz Damaskus nicht ohne geregelte Machtübernahme erobern. Zahlenmäßig waren die Rebellen der 4. Division von Assads Armee sogar unterlegen. Die Ordnung könne nur durch funktionierende Lokalräte aufrechterhalten werden, ist aus al-Sharaas Umfeld zu hören. Es scheint, als habe man aus den Fehlern der letzten Jahre gelernt.“
Doch die Metamorphose von der kompromisslosen al-Nusra zur kompromissbereiten HTS-Bewegung war steinig. Im Frühjahr gingen in Idlib Bürger gegen die Lebensumstände auf die Straße, radikale Gruppen lehnen seinen Kuschelkurs mit internationalen Nichtregierungsorganisationen ab, wurden aber rigoros ausgebootet. Ausländische Kämpfer verbannte er in spezielle Einheiten, sie tauchten während der Kämpfe in den letzten Tage nicht öffentlich auf. Ahmad al-Sharaa überlebte mehrere Mordversuche. In einem der taz vorliegendem Dokument bezeichnet der syrische Flügel des „Islamischen Staates“ ihn als Ungläubigen und Feind. In dem Dokument wird ihm vorgeworfen, aus Kasachstan stammende IS-Kämpfer an der Ausreise nach Europa gehindert zu haben.
Dennoch hat das US State Department ein Kopfgeld von 10 Millionen Dollar auf ihn ausgesetzt. Denn seine Al-Nusra-Front kämpfte auch gegen kurdische YPG-Einheiten, die Partner der USA im Kampf gegen den IS sind.
In den kommenden Tagen wird Ahmed al-Sharaa wohl in das Haus seiner Familie nahe der Akram-Moschee in al-Mazzeh zurückkehren – als Held.
Damit endet ein mehr als ein Jahrzehnt andauernder Kampf, der Millionen von Syrern zu Flüchtlingen gemacht hat. Das war der HTS-Anführer schon am Tag seiner Geburt. Anstatt einer syrischen Identitätsnummer erhielt er wie alle von den Golanhöhen vertriebenen Syrer die Zahlenkombination 5/35, der Code für „Nazeh“, eine vom Regime benutzte abwertende Bezeichnung für „intern vertriebene Personen.“
Syrien-Experte Lawand Kiki sieht in der Metamorphose des Rebellenanführers eine einmalige Chance für das Bürgerkriegsland. „Von einem Extremisten, der Musik und jegliche westliche Werte verbot, zu jemanden, der für Versöhnung mit dem Gegner wirbt. Auch wenn viele Syrer Zweifel haben, Ahmed al-Sharaa ist wohl derzeit die einzige Hoffnung, dass die unzähligen Gräueltaten des Regimes nicht direkt in eine neue unkontrollierbare Welle der Gewalt übergehen.“
Hinweis d. Red.: In einer früheren Version des Artikels befanden sich Fehler, die jetzt korrigiert wurden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen