Suchtmittel in Deutschland: 10 Prozent der Deutschen brauchen konstante Betäubung
Viele Deutsche halten die Realität nicht aus, ohne sich regelmäßig auszuschalten. Gibt es nicht genug nachvollziehbare Gründe für die Weltflucht?
S ucht ist keine bloße Krankheit. Sucht ist auch das Produkt von Verhältnissen, die für viele Menschen nicht mehr auszuhalten sind. Angesichts einer immer grausameren Gegenwart, in der sich Oligarchen vermehrt in die Politik einmischen, der Planet und seine Ressourcen rücksichtslos ausgepumpt werden, arme Menschen auf sich gestellt sind und man sich eigentlich keine utopische Zukunft mehr vorstellen kann, ist es nur logisch, dass es Menschen gibt, die es nicht aushalten, bei vollem Bewusstsein an dieser Realität teilzunehmen. Sie müssen verdrängen. Beweis dafür sind neue Zahlen.
Jede_r zehnte in Deutschland, so schreibt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), habe ein Suchtproblem. Jede_r zehnte, das sind 8,2 Millionen Menschen. Ein noch größerer Anteil, nämlich 13 Millionen, konsumiere seine Mittelchen, ob Alkohol, Tabak, Medikamente oder Gras, missbräuchlich.
Sicherlich gibt es Überschneidungen bei den Substanzen – bekanntlich schmecken Zigaretten besser, wenn man ein paar Gläser Wein intus hat, und Gras brauchen oft die, die vom Koks zu hibbelig sind, um einzuschlafen. Doch jedes Suchtmittel hat seinen speziellen Charakter.
Tabak ist von allen Drogen vielleicht diejenige, die den größten Verdrängungswillen erfordert: Denn Tabak ist nicht nur absolut tödlich, sondern auch gesellschaftlich akzeptiert und romantisiert. Sich ständig einzureden, dass man sich bei dieser suizidalen Raucherei – das sage ich als On-off-Raucherin – was Gutes tue, einen Moment für sich nehme, ja auch eine gewisse Geselligkeit herstelle, zeugt davon, welchen Kraftakt im Verdrängen das Rauchen erfordert.
Bald das große Geld?
Mit jedem Zug schüttet der Körper Dopamin aus, man entspannt sich, wird stressfrei und gleichzeitig stimuliert. Das tut gut. 4,4 Millionen Menschen gelingt diese Realitätsflucht. Die Zigarette ist die Verkörperung der Irrationalität.
Nicht ganz so viele, nämlich 1,3 Millionen Deutsche, sind glücksspielabhängig. Sie verschulden sich etwa bei Automatenspielen, Sportwetten oder Online-Casinos, spielen auf pathologische Art und Weise, können nicht aufhören. Die Realitätsflucht besteht einerseits im rauschartigen Spiel selbst, das sämtliche Knöpfe im Hirn betätigt, und andererseits darin, sich einzureden, bald das große Geld zu gewinnen.
Die fiesen Reichen kann man ignorieren, seine Lebensrealität muss man nicht in politische Forderungen übersetzen, die eigene Unterdrückung, wenn es diese gibt, ist egal. Denn bald ist man ja selbst ganz oben.
Eine geheime Verzweiflung
Dann gibt es noch die offensichtlichen Drogen. Legale wie Alkohol (1,6 Millionen Deutsche sind danach süchtig) oder Gras (300.000) und verbotene harte Drogen wie Crack, Heroin, Koks, Fentanyl (insgesamt etwa 150.000) – oder Medikamente (1,8 Millionen).
Abgesehen davon, dass Menschen, die in ihrer Kindheit Traumata erlebt haben, sich später besonders empfänglich für Drogenmissbrauch zeigen, sind diese Drogen auch das effektivste Mittel, nicht an der Welt mit all ihren Grausamkeiten teilzuhaben. Die Drogen wirken sich am drastischsten auf den physischen oder psychischen Zustand aus, es endet immer häufiger in der absoluten Flucht, dem Tod.
Wenn mindestens 10 Prozent der Deutschen eine konstante Betäubung in welcher Form auch immer benötigen, um bloß nicht zu stark wahrzunehmen, was da außerhalb der eigenen körperlichen Grenzen geschieht, kann das keine bloße Krankheit sein. Es ist auch eine geheime Verzweiflung.
21 Prozent wählen die destruktivste Droge
Die sogenannte Doomsday-Clock steht laut dem Bulletin for Atomic Scientists bei 89 Sekunden vor Mitternacht, vor einem „globalen Desaster“. Die DHS fordert vor der Bundestagswahl richtigerweise, dass Menschen mit Süchten adäquate Hilfe bekommen. Doch man darf auch Größeres fordern: eine Welt, die nüchtern auszuhalten ist.
Tut sich nämlich nichts, greifen laut Umfragen mindestens 21 Prozent zu einer noch destruktiveren Droge: Die Wahl einer rechtsextremen Partei. Die AfD ermöglicht die ultimative Realitätsflucht; zurück in eine Welt mit Verbrennern, mit Atomkraft, zurück in eine Welt, in der Minderheiten noch unterdrückter sind, zurück zu einem traditionellen Frauen- und Familienbild (was auch immer das bedeuten mag), zurück in prä-EU – oder in noch deutlich finsterere Zeiten.
Wähler_innen der Rechtsextremen betäuben sich mit der Hoffnung, als Gewinner dieser gruseligen Zeitreise davonzukommen. Was am Ende wie die Qualmerei nicht nur ihm selbst schadet – sondern allen, die er durch seine Entscheidung mit in Haftung nimmt.
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