piwik no script img

Subjektive LärmwahrnehmungSchnaaaaauzeeeee

Seit es urbane Gesellschaften gibt, gibt es Ruhestörung. Die aber lässt sich objektiv nicht definieren. Denn Lärm ist Ansichtssache.

Krach. Kann. Nerven Foto: Lucas1989/photocase

„Es ist zwar ein wenig schmierig, auch ist es lästig, sich schon bei Lebzeiten die Ohren zu verstopfen, es hält den Lärm auch nicht ab, sondern dämpft ihn bloß – immerhin“, schrieb Franz Kafka 1915 an seine Verlobte Felice Bauer. Er sprach von Ohropax, „Geräuschschützer für Gesunde und Kranke“, die der Potsdamer Apotheker Maximilian Negwer seit dem Jahr 1908 verkaufte. Später, gibt Kafka zu, hielt er es gar nicht mehr aus ohne die formbaren Wachbällchen im äußeren Gehörgang.

Ein noch unbequemerer Vorläufer von Ohropax war das Antiphon von 1885, ein „Rettungsapparat gegen den Hörzwang“ aus einer Hartgummikugel mit Bügel. Die Erfindung ist weniger Erwähnung wert als ihre 50-seitige Begleitbroschüre: ein Pamphlet gegen die Massen der Stadt, die Ungebildeten und Unnützen, den Pöbel und seine Ähnlichkeit zu Brüllaffen. Der Zank um das ständige Rauschen des Wohnens und Arbeitens zeichnete einen Kultur- und Klassenkampf der Gelehrten und Bürgerlichen gegen die Arbeiter, die Hämmerer und Rammler.

Der Philosoph Theodor Lessing moserte in seiner „Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens“ (1908): „In jede geistige, jede theoretische Schöpfung bricht lärmender Pöbel ein (…). Der Mangel an gesundem, tiefem Schlaf zerrüttet unsre Nerven.“

Dabei hatte Nachtruhe noch in der frühen Neuzeit weniger mit Lärm zu tun als mit Brandschutz. Die Polizei hatte die Aufgabe, die Nacht von Gefahren freizuhalten, von den Räubern, dem liederlichen Charivari, vor allem aber dem Feuer.

Seit dem 15. Jahrhundert achteten die Wachen in Europas Städten darauf, dass nachts niemand arbeitete, und synchronisierten damit den Schlaf. Wenn den etwas störte, waren es die Kirchenglocken, die erst im säkularisierten Frankreich nach der Revolution von 1789 ernst zu nehmende Gegner fanden. Im Deutschen Bund werden im Angesicht der neuen französischen Nachbarrepublik „Ruhe und Ordnung“ propagiert – das meinte neben den guten Sitten auch die staatliche Sicherheit.

Die Kneipe, das Wohnzimmer der Stadt

Um die Jahrhundertwende wuchsen die Städte, ihre Straßen säumten elektrische Laternen. Auch nachts kreischten die Maschinen. Gleise wurden renoviert, Straßen gereinigt und Schlaglöcher gestopft. Die Nacht reparierte den Tag.

Und es krakeelten immer mehr Trunkene. Neben der Zeit der Erholung brach mit der blauen Stunde nun auch die der Zerstreuung an: Durch geregelte Feiertage und Arbeitszeiten gab es einfach mehr Zeit. Die Kneipe war für die, die nicht drin waren, eine Lärmquelle. Gerade für die Arbeiterklasse aber war sie Zuflucht vor der ungemütlichen Mietskaserne – Ruhepol und Wohnzimmer der Stadt. Und doch: Die Probleme der Moderne, die Gosse, Armut und Prostitution, waren im Dunkeln nicht nur besser zu sehen. Nachts konnte man sie auch noch besser hören.

Die Zeit der Industrialisierung, erzählt der Historiker Achim Landwehr, verquickte die Moral der nächtlichen Ruhe mit der Ökonomie: Nächtliches Saufen und Arbeiten schicken sich nicht. Während die italienischen Futuristen den neuen Großstadtlärm zur Musik erhoben, fürchtete das aufklärerische Bürgertum die Selbsthingabe der Massen und ersann, sie aus ihrem selbst verschuldeten Elend zu befreien – besser als Wirtshäuser sollten sie Bibliotheken füllen.

taz.am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz.am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Bald wurde Akustik zur physikalischen Wissenschaft, seit den zwanziger Jahren wird der Schalldruckpegel in Dezibel gemessen. Die New Yorker ­Lärmbekämpfungskommission stellte fest, dass Autos gar nicht lauter waren als die Fuhrwerke der Pferde, die fortan in Gummischuhe schlüpfen sollten. Mit den Messverfahren waren Geräusche des Alltags nicht mehr nur „soziales Gefühl“, wie es der Anthropologe Michel Massmünster ausdrückt. Die scheinbare Objektivität hatte allerdings ihre Tücken, denn Wahrnehmung lässt sich nicht bemessen: Leise Musik kann je nach Geschmack und Stimmung mitunter mehr nerven als laute. Erst im Kopf wird ein Geräusch zu Lärm.

Im April 1944 gab der NS-Reichsarbeitsminister Franz Seldte die DIN 4109 für den „Schallschutz im Hochbau“ bekannt, welche ausführte: „Lärm­einwirkungen können die Gesundheit der Menschen schädigen und ihre Leistungsfähigkeit herabsetzen. Deshalb muss der Mensch in seiner Wohnung vor Lärmeinwirkungen möglichst geschützt werden.“

Wohl erwartete das deutsche Ingenieurwesen bereits die Wohnungsnot nach dem Weltkrieg, bei der man gleich auch die Schalldämmung mitbedenken könne. Die neue Norm setzte für den Wiederaufbau schlechtere Standards, als sie allgemein noch in den 30er Jahren galten; und so ist das erforderte Maß der Schalldämmung für Wände seitdem gar um ein Dezibel auf heute 53 dB gesunken.

Ingenieure beklagen bis heute, dass die Baunorm ihre Forderung nach „ausreichendem“ Schallschutz immer weiter aufgeweicht habe und das Gesetz stattdessen auf das Prinzip der gegenseitigen Rücksichtnahme setzt. Die Landes-Immissionsschutzgesetze gebieten meist eine Nachtruhe von 22 bis 6 Uhr; gegenüber dieser unmissverständlichen Zeitspanne holpert aber die Erklärung, was ihre Störung eigentlich ausmacht. In Rechtsauslegungen findet man Begriffe wie „zumutbarer und „vermeidbarer“ Lärm, das Richtmaß ist hier gar das menschliche „Durchschnittsempfinden, ergo das der verständigen Bürger.

Erst solche Regelungen, sagt Massmünster, geben ein Gefühl des Rechthabens und schaffen eine kulturelle Selbstverständlichkeit, sich vom Umgebungslärm gestört zu fühlen. Das Problem ist, dass sich bei solchen Regeln alle Parteien im Recht sehen: Menschliches Empfinden lässt sich gerichtlich nicht abstreiten.

Umkämpft wie zur Jahrhundertwende

Die Nachtruhe und der Lärm sind heute so umkämpft wie zur Jahrhundertwende, meint Massmünster. Dabei rücke das Laster in den Hintergrund, hervor treten Gesundheit und Chronobiologie: Man geht heute nicht mehr unbedingt dann ins Bett, wenn man müde ist, sondern achtet darauf, acht Stunden zu schlafen, weil das als gesund gilt.

Zwar poltern die Gelehrten nicht mehr gegen den Pöbel, aber Lärm ist immer noch einer der heftigsten sozialen Konflikte: Vorabendserien gegen Hundegebell, die Lauten und Schrillen gegen jene, die noch zwischen privat und öffentlich trennen, Touristen gegen Einwohner, Familien gegen Studierende, 9-to-5-Angestellte gegen die Rock Clock der Kreativwirtschaft, Flughafenanwohner gegen Flughafenbetreiber.

Theodor Lessing hatte infolge seiner „Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens den Deutschen Lärmschutzverband gegründet. Trotz immerhin gut 1.000 Mitgliedern – meist Literaten, Künstlerinnen, Ärzte und Juristinnen – konnte er das „Recht auf Stille“ nicht durchsetzen und wurde schon 1914 aufgelöst.

Heute fühlen sich laut Umweltbundesamt nur 32 Prozent der Menschen in Deutschland in ihrem Wohnumfeld nicht von Lärm belästigt. „Im Feld des Unbewussten“ ist das Ohr „die einzige Öffnung, die sich nicht schließen lässt“, wie der Psychoanalytiker Jacques Lacan schrieb; und doch ist volles Verständnis für das eigene Leiden bis heute schwer zu erlangen.

Im Feld des ­Unbewussten ist das Ohr die einzige Öffnung, die sich nicht schließen lässt

Jacques Lacan, Psychoanalytiker

Die akustische Forschung kann zwar Pegel bemessen und in Lärmkarten notieren, aber nicht die nervliche Belastung des Scharrens zweier Messer oder eines Schleudergangs um 2 Uhr früh. Derweil stolpert die gesetzliche Synchronschlafenszeit von 22 bis 6 Uhr über die Realität der unsynchronen Lebensentwürfe.

Vielleicht würde es helfen, Lärm wieder als soziales Gefühl anzuerkennen. Auf der Dresdner Hygiene-Ausstellung 1911 hatte der Medizinalrat Robert Sommer „öffentliche Ruhehallen“ für die Städte vorgestellt, samt Eintrittsgebühr und Betreuungspersonal. Solche akustischen safe spaces für die Müden sind sicher eine gute Idee. Aber dann müsste es die auch für Waschmaschinen, Liebemachende und Nachteulen geben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Diesen besinnlichen Artikel über die Subjektivität des Lärms muss ich mir unbedingt nochmal in Ruhe durchlesen. Vielleicht dreht ja später der Wind und die Flugzeuge nehmen die andere Einflugschneise... ;)

  • Den Autor lade ich für ein sonniges Wochenende zu mir auf die Terrasse ein. Danach kann er dann auch einen Artikel zur objektiven Lärmwahrnehmung schreiben. Wenn er nämlich sein Gespräch solange unterbrechen muss, bis die Motorradgruppe wieder außer "gesprächsweite" ist. Zudem gilt bei uns immer noch die STVO Grundregel aus §1 "(2) Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird." Ähnlich wie beim Dieselskadal hat die Autoindustrie von Jahr zu Jahr für mehr "Sound" an ihren Fahrzeugen gesorgt. Ein glatter Verstoß gegen geltendes Recht und die Gesundheit vieler Bürger. Aber das ist der Industrie egal, hauptsache der Rubel rollt. Und der Autor unterstützt dieses asoziale Verhalten noch.

  • Und dann is da noch die Selbstkasteiung: der Geräuschbelästigungsquellen in öffentlichen Verkehrsmitteln zu entgehen wird mit Hilfe von mp3-Geräten geohrstöpseltas das Zeug hält.

     

    Doch einmal unerwartet in den Lautstärkepegel eines solchen Ausblenders geraten registriert man erschreckt, wie viel Dezibel erforderlich sind um die Umgebungsgeräusche zu übertönen; nicht zu reden von den zeitgenossen, deren Beschallung man trotz deren Ohrknöpfchen mit ertragen muss.

     

    Im Selbstversuch mit Ohropax dann mal den Weg in eine Großstadt zu wagen ist ebenfalls riskant, denn spätestens wenn man die kleinen Schweiger heraus nimmt scheint einem die Umgebung um die Ohren zu fliegen.

     

    Dank einer App mal die Messung der Geräuschbelästigung zu dokumentieren ist kein geringeres Wagnis: im Endergebnis ist alles 'objektiv' nicht so schlimm wie durch zur Manie gewordene Beobachtungen erst wahrgenommen.

     

    Dennoch sehe ich keine Audi-Hypochondrie darin, meine verdiente Ruhe zu finden. Was auch gelingt, wenn ich nicht zu fixiert darauf bin...

     

    Dankenswerter Artikel zu einem mir sehr beliebten Thema.