Sturm auf Libyens Parlament: Aufstand gegen Islamisten
Milizenchef Haftar aus Bengasi erklärt das Parlament nach Kämpfen in der Hauptstadt für aufgelöst. Bisher konnte keine Seite die Oberhand gewinnen.
TRIPOLIS taz | Anspannung war auf vielen Gesichtern der Passanten abzulesen, die am Montagmorgen schnell das Nötigste im Einkaufzentrum im Stadtteil Daha von Tripolis einkauften. Es war ein merkwürdig ruhiger Morgen nach einem Sonntag, der Erinnerungen an den Krieg vor drei Jahren wachrief.
An der Flughafenstraße inspizieren Neugierige kopfschüttelnd die Einschläge der Granaten an den Fassaden der Mehrfamilienhäuser. An den Tankstellen stehen lange Schlangen von Fahrzeugen, wie schon tags zuvor während der schweren Kämpfe in der Hauptstadt mit zwei Toten und 55 Verletzten.
Das Nebeneinander von Normalität und Krieg wundert mittlerweile niemanden mehr in Tripolis und Bengasi, wo sich nach heftigen Straßenkämpfen vom Freitag die Milizen neu gruppieren. „Das sind alles Leute aus der Wüste, die in die Hauptstadt kommen, um uns ihren Willen aufzudrängen. Und letztlich wollen sie nur das Geld der Zentralbank“, beschwert sich Ladenbesitzer Lotfy Tahrouni.
Das Abflauen der Kämpfe in Ost und West ist indes kein Grund zur Beruhigung. Es ist nur keiner Seite gelungen, die Oberhand zu gewinnen. Ziel von Chalifa Haftars „Nationalarmee“, die am Wochenende islamistische Milizen in Bengasi angegriffen hatte, ist es daher, strategische Positionen zu besetzen. Mit der Belagerung des Parlaments am Sonntag ist ihm das gelungen. Panikartig verließen die Abgeordneten das Gebäude, als mit Haftar verbündete Kämpfer der Qaa-Qaa-Miliz auftauchten, obwohl diese offiziell der Regierung untersteht.
Parlamentspräsident Nuri Abusahmain versuchte nach dem Überfall, Normalität zu demonstrieren. Die Regierung sei trotz der Angriffe legal im Amt, sagte er. Haftar kontertete auf dem ihm nahestehenden Fernsehsender al-Assema: „Das Parlament ist abgesetzt, die verfassunggebende Versammlung in al-Baida übernimmt die Amtsgeschäfte bis zu Neuwahlen.“
„Allumfassendes Misstrauen“
Was wie ein Putsch aussah, ist möglicherweise ein Verhandlungsangebot, denn Haftars Truppen zogen sich später zurück. „Wenn alle an der Macht sind, ist niemand an der Macht“, twitterte ein Akivist süffisant. Auch auf der politischen Bühne Chaos. Die liberale Opposition erkennt den neuen Premier Ahmed Maitik genauso wenig an wie die Föderalisten im Osten.
„Die Islamisten dominieren den Kongress nach Belieben“, behauptet eine Abgeordnete aus Bengasi, die wegen der eigenmächtigen Verlängerung des Parlaments im Frühjahr zurückgetreten war. Nervös nippt sie in einem einem Caffè Latte, „keinen Namen bitte“. Ihre Familie würde bedroht, sagt sie und wirft den Muslimbrüdern vor, den Staat kontrollieren wollen.
„Dieses allumfassende Misstrauen gegenüber dem politischen Gegner ist die dramatische Folge der letzten vier Jahrzehnte autoritärer Herrschaft und Klan-Kultur.“ Der Universitätsprofessor Nurdin Emnener sieht eine neue Generation der Zivilgesellschaft gefordert. „Wir müssen schnell eine Kultur des politischen Dialogs schaffen. Libyen hat damit nur wenig Erfahrung.“
Ungeachtet des Angriffs auf das Parlament will Maitik kommende Woche sein Kabinett vorstellen. Ohne ein Kompromiss droht ein Konflikt zweier Allianzen: auf der einen Seite die Sintan-Brigaden, die Qaa-Qaa-Miliz, die Föderalisten, die Minderheit der Tobu und Haftars Nationalarmee, auf der anderen religiöse Milizen aus Misrata, die Muslimbrüder und die islamistischen Milizen in Bengasi.
„Wir kommen in den Westen,“ drohen Ansar al-Scharia und andere Islamisten auf ihren Facebookseiten. Zu sehen sind Maskierte mit schultergestützten SAM-7-Luftabwehrraketen. "Wir werden Haftar bestrafen."
Leser*innenkommentare
PolitDiscussion
Der Streit zwischen den politischen Kräften und deren militärische Auseinandersetzungen untereinander sollte nicht die wahre Tragödie Libyen aus den Augen verlieren lassen, nämlich abertausende Verschleppte, täglich grausam Gefolterte - manche bis zum Tod - sowie das Verbrechen gegen die Menschlichkeit - als solches mittlerweile anerkannt - gegen die schwarzen Libyer in Tawergha, die bis zum letzten Baby und Greis ethnisch weggesäubert wurden. Die Tawergha Foundation informiert über ihr anhaltendes Leid als vogelfreie Bürger eines Landes, welches bis heute nichts unternimmt, um sie vor Verschleppung, Folter und Tötung zu schützen. Libyen ist eine Menschenrechtskatastrophe fürchterlichen Ausmaßes, nicht nur ein uns verblüffendes Kuriosum.