Studie zu Missständen in Kinderkuren: Verdrängte Ferien
Die Evangelische Hochschule startet eine Befragung ehemaliger Verschickungskinder. Es geht um Gewalterfahrungen in Hamburger Einrichtungen.
So wie Peter erging es vielen Kindern in der Nachkriegszeit. Man „verschickte“ sie in die Berge oder an die See. Das sollte zu ihrem Besten sein, doch viele erlebten es als Horror. Als sich die heute erwachsenen Verschickungskinder 2019 auf Sylt zum Kongress trafen, war ihre erste Forderung: Es muss Forschung geben. Nun startet in Hamburg die Evangelischen Hochschule die erste Studie. Seit Montag steht ein Fragebogen online, den alle ausfüllen können, die von 1945 bis 1980 zur Kinderkur beim Verein „Kinder- und Jugendgenesungsfürsorge“ oder der „Rudolf-Ballin-Stiftung“ waren.
Dazu zählen das „Hamburger Kinderheim“ in Wyk auf Föhr, das Heim „Linden Au“ in Lüneburg, der „Hubertushof“ im Allgäu und zehn weitere. Gefragt wird zum Beispiel nach der Situation beim Essen, beim Schlafen, in der Freizeit, ob Kinder schreiben durften und wie sie die Erfahrung heute bewerten.
„Durch den Fragebogen verschaffen wir einen ersten Überblick“, sagt Johannes Richter, Professor für Soziale Arbeit, der mit Kollegin Sarah Meyer die Studie leitet. Montags früh bieten sie eine Sprechstunde für Betroffene an. Bei der ersten meldete sich eine Dame, die erstmals über ihre Erfahrungen sprach.
Zur Strafe eine kalte Dusche
Die Forscher wollen auch Mitarbeiter interviewen. Zudem recherchiert Richter in Archiven über den Umgang der Verwaltung mit Beschwerden. Bekannt ist, dass sich 1971 ein Erzieher beklagte, weil in Linden Au Kinder zur Strafe kalt geduscht und in den Keller gesperrt wurden. Mit diesem Erbe setzte sich inzwischen auch die Rudolf-Ballin-Stiftung auseinander. So heißt es auf der Homepage, man wisse, dass es 1971 in Linden Au zu „massiven Misshandlungen“ kam.
Die Äußerungen ehemaliger Verschickungskinder wiesen aber darauf hin, dass das kein Einzelfall war, weshalb man nun mit der Stadt diese Studie beauftrage. Die wird mit 32.000 Euro gefördert, soll im Sommer 2023 fertig sein. Doch schon im August ist ein Zwischenbericht geplant. In der zweiten Phase führen dann Master-Studierende mit 30 Menschen vertiefte Interviews.
Das Projekt schien zunächst etwas heikel. Denn die Betroffenen, die sich auf Initiative von Schriftstellerin Anja Röhl bundesweit vernetzen, wollen in Form von „Citizen Science“ selbst forschen. Sie haben Wissenschaftler in ihren Reihen. So gibt es bereits auf Bundesebene eine allgemeinere Befragung, die die Sozialwissenschaftlerin Christiane Dienel betreut.
Laut einer Auswertung, die Anja Röhl in ihren Buch „Das Elend der Verschickungskinder“ publiziert, bewerteten von über 3.000 Betroffenen 94 Prozent die Kur „negativ“. Und an Bestrafungen, wie Peter Krausse sie schildert, erinnern sich zwei Drittel. Neun von zehn berichten von körperlichen und seelischen Folgen, für die meisten waren die von Dauer.
„Wir hatten am Anfang starke Bedenken gegen die Studie“, sagt Peter Krausse, der in Hamburg die Gruppe der Verschickungskinder koordiniert. Doch nach Gesprächen mit Behörde, Stiftung und Forschern seien diese ausräumt. So gibt es einen Beirat, in dem Betroffene den Vorsitz haben. Dort wurde der Fragebogen abgestimmt.
Verschickungskinder gründeten Verein
„So eine Landesforschung vor Ort ist sinnvoll“, sagt auch Christiane Dienel. Doch zugleich sei es wichtig, bundesweit zu forschen, welche Rahmenbedingungen diese Praxis zuließen. Auch müssten die Betroffenen im ganzen Land darin unterstützt werden, als Bürgerforscher über die Heime zu recherchieren, damit sie Macht über ihre eigene Vergangenheit kriegen.
Dies wird bisher vom Verein der Verschickungskinder ehrenamtlich gemacht. Weil das auf Dauer aber nicht zu schaffen ist, sei eine finanzielle Unterstützung auf Bundesebene nötig, fordern Dienel und Röhl. Dies sahen auch die Familienminister im Mai 2020 so und forderten eine Forschung, die die „Eigenrecherchen der Betroffenen“ berücksichtigt. Doch das zuständige Gesundheitsministerium hat Dienel und Röhl auf die Zeit nach Corona vertröstet. „Aber die Zeit drängt, denn wir Betroffen werden älter“, sagt Krausse.
Er ist 70, sein Heim gehörte einer Krankenkasse, deshalb ist es bei den nun Beforschten nicht dabei. Deshalb hofft er auf weitere Studien. Um Entschädigung gehe es ihm nicht. Aber einzelne, die unter posttraumatischen Störungen leiden, bräuchten gezielte Hilfe.
Johannes Richter geht es auch um die Verantwortung der Institutionen. Oft höre er, es gab damals eben einen anderen Zeitgeist. Als Entlastung reiche das nicht. „Schließlich traten sie mit den Anspruch an, sie können die Kinder besser erziehen und pflegen.“
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