Autorin über Verschickungskinder: ,,Die Kinder erlebten dort Gewalt“

In den 50er bis 90er Jahren wurden Kinder zu oft traumatisierenden Kuraufenthalten geschickt. Manche hätten das nie verwunden, sagt Anja Röhl.

Kinddr an einer Kaffeetafel mit einer Ordensschwester

Unter strenger Aufsicht: Kinder zur Kur in Westdeutschand 1954 Foto: Christoph Sandig Privatfoto/dpa

taz: Frau Röhl, Sie waren selbst ein sogenanntes ‚Verschickungskind‘. Was genau bedeutet das?

Anja Röhl: Verschickungskinder nennen sich die Betroffenen von Kinderverschickung in den 1950er- bis in die 1990er-Jahre. Verschickung bedeutet, dass man einen Aufenthalt von sechs Wochen in einer weit abgelegenen Kinderkurklinik erhält. Die Eltern haben Besuchsverbot und es gibt eine Briefzensur. Insgesamt wurden auf diese Weise ca. acht bis zwölf Millionen Kinder verschickt. Diese Heime wurden als Kurorte für Kinder beworben. Tatsächlich erlebten Kinder dort Demütigungen, Erniedrigungen, Gewalt.

Sie haben auch andere ‚verschickte Kinder‘ getroffen. Wie gehen diese Menschen heute mit dieser Erfahrung um?

Trotz dieser traumatischen Erfahrungen haben die meisten keinen kompletten Bruch in ihrem Lebenslauf gehabt. Es waren eben nur sechs Wochen. Danach sind sie wieder nach Hause gekommen in ihr normales familiäres Umfeld. Es gibt allerdings auch Personen, bei denen diese sechs Wochen ausgereicht haben, um ihr Leben komplett über den Haufen zu werfen.

67, ist Autorin und Dozentin. Bekannt wurde sie unter anderem durch ihr Buch über ihre Stiefmutter Ulrike Meinhof, ,,Die Frau meines Vaters: Erinnerungen an Ulrike“.

Warum sehen Sie eine Verbindung von diesen Heimen zur NS-Zeit?

Weil wir in den Betroffenenberichten Situationen vorgefunden haben, die Nachinszenierungen aus der NS-Zeit sind. Beispielsweise wurden in der Kinderheilstätte Murnau am Staffelsee jedem Kind die Haare geschoren. Aus vielen Heimen gibt es die Erinnerung, dass die Kinder nur mit Nummern angesprochen wurden. Die kriegten eine Nummer auf den Unterarm geschrieben.

Warum erhält dieses Thema wenig mediale Öffentlichkeit?

Ich habe das eigentlich schon immer meinen engsten Leuten erzählt. Im Vergleich zu KZ-Häftlingen und Heimkindern erschien mir mein Verschickungsaufenthalt jedoch gering. Ich musste erst mit der Nase darauf gestoßen werden, dass unsere Erlebnisse eine gesellschaftliche Bedeutung und Berechtigung haben, ernst genommen zu werden. Das ist bei den meisten Verschickungskindern so.

Vortrag und Lesung

,,Heimweh - Verschickungskinder erzählen“: Heute, 17 Uhr, Hamburg,

Rauhes Haus/Wichersaal, (2G+, Zuschaltung per Stream ist möglich). Anmeldung erbeten unter anmeldung.eh@rauheshaus.de

Wie unterstützt Ihre Initiative „Verschickungskinder“ Menschen, die in diesen Heimen Gewalt erfahren haben?

Unsere Internetseite www.verschickungsheime.de bildet eine Plattform, um Erfahrungen online stellen zu können. Dadurch kann es Austausch zwischen den Betroffenen geben. Viele suchen Menschen aus demselben Heim. Die können sich bei uns vernetzen. Man kann auch unseren Fragebogen ausfüllen, der wissenschaftlich ausgearbeitet wird. Wir setzen uns dafür ein, dass dieser Datenschatz gehoben wird und fordern eine Kollektiventschädigung von sechs Millionen Euro in Form von Unterstützung bei der Recherche und Aufarbeitung. Wir brauchen Selbsthilfegruppen, Telefonberatung, Sozialarbeiter, Historiker. Es geht uns um die individuelle und gesellschaftliche Aufarbeitung.

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