Misshandlung eines Verschickungskindes: Zu zart gebaut, sagte der Arzt

Auf Kur wurde unser Autor als Kind misshandelt. Die Gewalt der Heimerziehung beruhte auch darauf, dass er nicht dem Männlichkeitsideal entsprach.

Ein Junge steht seitlich, seine mageren Schultern stehen hervor

Hervorstehende Schulter­knochen seien mädchenhaft, bekam unser Autor im Heim zu hören (Symbolfoto) Foto: Ann Holgrem/plainpicture

Verschickungskind. Diesem Begriff ordne ich mich zu. Ich habe mich schon lange nicht mehr zugeordnet. Zuletzt als Kind. Als Fußballfan des FC Bayern. Ich fuhr mit Papa ins Stadion. Nach Offenbach, zum Bundesligaspiel gegen Bayern München.

Ich bekam eine FC-Bayern-Fahne, eine Autogrammkarte mit Bild von Franz Beckenbauer hatte ich schon. Das Bild von Franz Beckenbauer trug ich immer bei mir, auch bei meiner ersten Verschickung, in Karlshafen. Von diesen Verschickungserlebnissen berichtete ich erstmals in der taz im vergangenen Jahr.

Das Bild durfte ich nicht behalten. Die Nonne nahm es mir ab, so wie alle persönlichen Dinge. Ich versuchte ihr zu erklären, was mir das Bild bedeutet, aber sie hörte mir nicht zu. Ich musste mich fügen und sah noch, wie sie das Bild in den Papierkorb warf.

Ich wurde zwangszugeordnet. Antreten in Zweierreihen. Schweigen, wenn man nicht gefragt wurde, aufessen und Hagebuttentee trinken unter Zwang, jeder kleinste Regelverstoß mit Prügel bestraft. Das Bild malen, das im Malbuch vorgegeben ist, niemals das, was im Kopf ist. Zur Lüge gezwungen beim Schreiben nach Hause: „Mir geht es hier sehr gut, alle sind nett zu mir, ich habe auch kein Heimweh.“ Wahrheit verboten. Ich hatte schreckliches Heimweh.

Nicht mehr allein sein

Danach wollte ich mich nicht mehr zuordnen, nie mehr. Keiner Partei, keiner Nation, keiner Ideologie. Lange Zeit hatte ich die Verletzungen meiner zwei Verschickungen verdrängt. Und wenn sie doch mal hervorkamen, ordnete ich sie Theaterfiguren zu, die ich für meine Stücke schuf, so als hätten sie eigentlich nichts mit mir zu tun. Schon als Kind war das eine Strategie von mir: zu tun, als sei man gar nicht da. Äußerlich da sein, still, brav, folgsam – und innerlich ganz woanders.

Verschickungskind. Zugeordnet. Nicht mehr allein. Schlagartig nicht mehr allein, als ich eine Reportage im Fernsehen sah, im „Report Mainz“, wo Verschickungskinder ihre zumeist traumatischen Geschichten erzählten. Der Austausch begann. Plötzlich kam es mir seltsam unwirklich vor, dass ich geglaubt hatte, nur ich hätte all diese Schmerzen und Demütigungen in den sogenannten Kuren erlebt, und so empfunden, weil ich so ein empfindsamer Junge war. Überempfindsam für einen Jungen, wie mir beigebracht wurde.

Was für ein Unsinn, dachte ich, als ich die Geschichten der anderen hörte und las. Es gab mittlerweile eine Internetseite für Betroffene und schon bald stellte ich auch meine Geschichte der Verschickungen dort ein, schrieb daran, erinnerte, schrieb weiter, auf meine Weise. Und jetzt waren es meine Geschichten, nicht mehr die meiner Theaterfiguren.

In Marburg nahm ich Kontakt zu anderen Betroffenen auf, die hier wohnten. Wir gründeten eine Regionalgruppe für Hessen. In Zeitungen, Radio und Fernsehen wurden unsere Geschichten öffentlich, auch meine. In diesem Wechselspiel von Öffentlichkeit, Interviews, Austausch mit anderen Betroffenen erinnerte ich mich immer weiter, lösten sich die Bilder aus dem Verborgenen, fand ich die Worte dafür.

Ich wurde angesprochen, auch von Unbekannten, die mich anriefen, mir schrieben. Es hatte etwas angefangen, was über den persönlichen Austausch hinausging. Die Demaskierung eines Systems der Menschenverachtung, welches nur scheinbar nicht mehr existierte.

Nazi-Ideologie

Die Ideologie der Nazis wucherte in der Nachkriegs-BRD weiter. Weitgehend im Verborgenen, im Verdrängten, und hatte doch ganz konkrete Auswirkungen in der Realpolitik, im Zusammenleben der Menschen. In Heimen, Psychiatrien, teilweise auch in den Schulen ließ sich die „schwarze Pädagogik“ der Nazi-Ideologie ungehindert ausleben. Und damit auch geschlechtsspezifische Rollenfestlegungen bis hin zu sexualisierter Gewalt.

Deshalb ist der Titel meiner Erzählungen, aus denen dann ein Buch geworden ist, „Verschickungsjunge“‚ – nicht „Verschickungskind“. In unserer Regionalgruppe stand zunächst das Erzählen der Geschichten und das Zuhören im Mittelpunkt. Es wird auch nicht aufhören, denn mit dem Erzählen und Zuhören lösen sich auch Erinnerungen aus dem Verborgenen und können weitererzählt und gehört werden.

Da waren Menschen, die im Vorschulalter verschickt wurden und dachten, dass sie ihre Eltern nie wieder sehen würden. Menschen, die als Kinder gezwungen wurden, andere zu schlagen, wenn die ins Bett gemacht hatten, Und wir stellten in unserer schnell wachsenden Gruppe fest, dass wir Menschen aus unterschiedlichen Generationen waren, die Zeitspanne reichte von Verschickungen in den 1950er Jahren bis in die 1990er.

Neben drastischen Fällen von Qual und Erniedrigung sind es auch die scheinbar kleinen Dinge, die für Kinder lange nachwirkende Wunden hinterlassen können. Es sind übereinstimmende Erfahrungen, die das System der menschenverachtenden Heimerziehung deutlich machten. Die herablassende Art der Erzieher*innen. Der rücksichtslose Essenszwang.

Misshandlungen aller Art

Das Zurschaustellen der Kinder, die ins Bett gemacht hatten. Der Zwang zur Lüge, in dem der Text der Post nach Hause diktiert und keine ehrlichen Aussagen zugelassen wurden. Das Öffnen der Briefe der Eltern an ihre Kinder. Das Alleingelassen werden der Kinder mit ihren Ängsten, Sorgen und Nöten.

Wie sehr dies bis hin zu nicht überwindbaren Auswirkungen im Erwachsenenalter gehen konnte, verstand ich, als mir eine Frau erzählte, die mit mir außerhalb unserer Gruppe Kontakt aufgenommen hatte. Sie war mehrfach verschickt worden und erzählte von der Einsamkeit, ihren Ängsten, ausgeliefert zu sein. Die Betreuerinnen empfand sie als gefühlskalt, eine gegenseitige Unterstützung der Kinder untereinander gab es nicht. Die dadurch ausgelöste Zerstörung des Vertrauens zu anderen Menschen blieb für sie auch im erwachsenen Leben bestehen, erzählte sie.

Hinzu kam, dass ihre Verschickungserlebnisse von The­ra­peu­t*in­nen bislang nicht ernst genommen wurden. Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein vom Leben der anderen, konnte sie nie überwinden, mit ihren Trennungsängsten nicht umgehen, war ihre Schlussfolgerung. Jetzt hofft sie, dass sich dies durch den Austausch mit anderen Betroffenen ändert.

Die ohnehin in der Gesellschaft tief verwurzelte Festlegung von geschlechtsspezifischen Rollen wurde in der Heimerziehung massiv verstärkt. Das führte teilweise zu Fällen von sexualisierter Gewalt. Mädchen und Jungen hatten so zu sein, wie es ihren Rollen entsprach. Insbesondere bei meiner zweiten Kur nahm ich wahr, wie dies auch von den Be­treue­r*in­nen vorgelebt wurde. Der „Chef“, ein Mann, gab die Erziehungsmethoden vor, die weiblichen „Tanten“ hatten dies umzusetzen. Das Weiche, Zarte, zu sehr Fantasievolle war bei uns Jungs auszulöschen.

„Das Kind ist für einen Jungen zu zart gebaut“, hatte ein Arzt über mich gesagt, und dies grundlegend zu ändern war der „Auftrag“ der Heimerziehung. Das dabei auch das Abhängigkeitsverhältnis der oft jungen „Tanten“ vom „Chef“ zu sexualisierter Gewalt führte und ich andeutungsweise Zeuge dafür wurde, ohne dies aus meiner Perspektive des Kindes zu verstehen, habe ich erst in der heutigen Distanz erkannt. Dabei half meine Begegnung mit der Journalistin Katja Döhne.

Mädchen haben Engelsflügel

Katja Döhne arbeitet als Filmjournalistin und macht unter dem Titel „Y-Kollektiv“ Filme für das öffentlich-rechtliche Programm. Nach einem längeren Telefongespräch vereinbarten wir, gemeinsam nach Karlshafen zu fahren, zur Spurensuche. Ich vertraute Katja, hatte das Gefühl, ihr alles erzählen zu können, was ich zu sagen wusste. Ich erzählte von Tante Bärbel, Betreuerin im Kinderheim „Dithmarsia“ in St. Peter-Ording. Und die Bilder waren wieder da.

„Du hast ja richtige Flügel“, sagt Tante Bärbel, „Engelsflügel“. Ich verstehe nicht, was sie meint. Bis sie es mir zeigt: die hervorstehenden Schulterknochen an meinem schmalen Rücken. „Mädchen haben Engelsflügel“, sagt Tante Bärbel. „Jungs nicht. Jungs brauchen kräftige Schultern, um Engel tragen zu können. Aber das schaffen wir bei dir auch noch.“

In Karlshafen fanden wir anhand von Fotos das frühere Kinderheim, das später ein Kurhotel gewesen war und jetzt leer stand. Wir suchten den Eingang, ich hielt mich hinter Katja, als lauere etwas Gefährliches in diesem Haus. Ein Teil von mir war in diesem Moment der Junge von damals, schüchtern, ängstlich, zugleich neugierig, genauer Beobachter.

Ich erkannte das Heim an den Fenstern. Als wären sie zeitlos, schaute aus den engen, weißen Rahmen wie aus Gittern der kleine Junge heraus, der ich war und der ich bin. Dieser Junge wusste nicht, was es war, was es sein sollte, ein Junge zu sein.

Ich sah Tante Bärbel vor mir, die Dusche im Kinderheim „Dithmarsia“, die Wassertropfen, die über die Haut rinnen, mein schmales Kindergesicht, das sich an Tante Bärbel drückt, ein Kind, das Engelsflügel haben darf für alle Zeit des Lebens, kein Junge mehr zu sein braucht, hart, laut und stark, nie mehr.

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