Studie über freiwilliges Engagement: „Methodisch unzulänglich“
Der Freiwilligen-Survey der Bundesregierung hat „mehr mit Science Fiction als mit Science zu tun“, kritisiert der Wissenschaftler Roland Roth.
taz: Herr Roth, der jüngst erschienene, neue Freiwilligen-Survey hat Jubel bei Politikern und etablierten Verbandsvertretern ausgelöst. Zwischen 2009 und 2014 hat sich die Engagement-Quote von 35,9 Prozent auf 43,6 Prozent – also um 20 Prozent – erhöht. Wie kam es zu dieser gewaltigen Ehrenamts-Vermehrung?
Roland Roth: Dies hat vermutlich wenig mit der Realität zu tun, sondern beruht vor allem auf veränderten Berechnungsgrundlagen: Der Fragezeitraum wurde ausgedehnt. Die Standards für Tätigkeiten, die als freiwilliges Engagement gelten sollen, wurden abgesenkt. Erneut wurde der Bildungsbias nicht bereinigt, das heißt, bei denen, die geantwortet haben, sind die Bessergebildeten und damit die stärker Engagierten deutlich überrepräsentiert – allein diese notwendige und unkomplizierte Operation hätte die vom Deutschen Zentrum für Altersforschung (DZA) gemessene Engagementquote um mindestens 2 Prozent reduziert
Im gleichen Zeitraum soll die Zahl der Engagierten von zuvor 24 Millionen auf knapp 31 Millionen gestiegen sein. Explodierende Engagement-Zahlen einerseits – und lautes Klagen der Initiativen vor Ort: wie passt das zusammen?
Gar nicht! Die Zahlen des DZA haben mehr mit „Science Fiction“ als mit „Science“ zu tun. Es wird zwar im Detail immer strittig bleiben, was als „freiwilliges“ oder gar als „bürgerschaftliches Engagement“ zu werten ist. Auch die Enquete-Kommission des Bundestages hat sich für einen weiten Engagementbegriff eingesetzt, der über das klassische Ehrenamt hinausgeht. Aber der Freiwilligen-Survey (FWS) 2014 hat die Grenzen zwischen freiwilligem Engagement und anderen gemeinschaftlichen Aktivitäten wohl weitgehend eingeebnet, wenn nun auch das Kicken im Park oder das Wandern und Chorsingen im Altenverein, wie im Bericht geschehen, als Beispiele für freiwilliges Engagement aufgeführt werden.
Wo sehen Sie die methodischen Defekte des neuen Surveys, den das zuständige Ministerium ja erstmals beim „Deutschen Zentrum für Altersfragen“ in Auftrag gegeben hat?
Das überwiegend psychologisch ausgebildete Autorenteam ist stolz auf seine methodische Präzision. Aus dessen Sicht sind die Vorgänger-Surveys methodisch unzulänglich und sie korrigieren sogar nachträglich deren Engagementquoten. Damit entwertet das DZA-Team die zurückliegenden Surveys – und damit die Arbeit von einigen Dutzend Wissenschaftlerinnen und Experten – und tritt deren Ergebnisse in die Tonne. Mit der vom DZA vorgenommenen Korrektur der Engagementquoten werden ja auch zahlreiche der inhaltlichen Aussagen der früheren Surveys obsolet.
Aus meiner Sicht haben die DZA-AutorInnen, die sich ja überwiegend zum ersten Mal mit dem Thema Engagement beschäftigt haben, methodisch exakt das Thema verfehlt, wenn sie den geneigten LeserInnen mitteilen, dass z.B. Freiwilligkeit keine Rolle mehr spiele und gleichzeitig auf einen schulischen Pflichtkanon im Engagementlernen verweisen, der die spektakulären Steigerungen im Engagement Jugendlicher erklären soll. Wer, wie das DZA-Team, jedes Nachdenken über den Gemeinwohlbezug freiwilligen Engagements mit dem Hinweis einstellt, das sei zu schwierig und zu kontrovers, muss sich fragen lassen, wozu Wissenschaft dann eigentlich da ist.
Prof. Dr. Roland Roth war 2004 Mitglied in der Enquete-Kommission des Bundestages „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagement“ und der Expertengruppe des 2. Freiwilligen-Surveys von 2004. Er ist einer der führenden Experten im Themenfeld bürgerschaftliches Engagement in Deutschland.
Nicht erst seit „Pegida“ und den gewalttätigen Aufmärschen gegen Geflüchtete und Aktionen gegen „Fremde“ sollte klar sein, dass die großen gesellschaftlichen Erwartungen, die mit dem freiwilligen Engagement üblicherweise verbunden werden und seine staatliche Unterstützung rechtfertigen – sozialer Zusammenhalt, demokratische Kultur, ziviler Umgang -, keineswegs für alle freiwilligen Aktivitäten beansprucht werden können. Ein normativ gereinigtes Zahlenwerk hilft hier nicht weiter und die großen Fallzahlen enthalten womöglich ein anwachsendes unziviles Engagement, das kein Anlass zur Freude sein kann.
Zudem sind die Zahlen ja schon wieder ‚alt‘ – die Befragung reicht nur bis 2014 und hat das angeblich große Engagement im Zuge der Flüchtlingshilfe nicht einmal erfasst.
In der Tat liegen zwischen den Erhebungen und der Veröffentlichung des FWS 2014 fast zwei Jahre. Das ist bei einem Survey, der alle fünf Jahre erscheinen soll, eindeutig zu lange und war bei den Vorgängern auch nicht der Fall. Der FWS 2014 hatte dieses Mal zudem das Pech, von den Ereignissen des Jahres 2015 überrollt worden zu sein. Verschiedene Studien sprechen davon, dass sich seit dem Herbst 2015 mehr als 10 Prozent der Bevölkerung für Geflüchtete eingesetzt habe, mehr als die Hälfte davon zum ersten Mal.
Wir haben selbst im Februar 2016 eine Kommunalbefragung durchgeführt, in der das freiwillige Engagement der Bevölkerung als die mit Abstand wichtigste kommunale Ressource in der Flüchtlingspolitik angegeben wird. Über die Rückwirkungen auf andere Engagementfelder wissen wir wenig. Mit dem unerwartet starken Engagement für Geflüchtete, aber auch den regional sehr heftigen Gegenmobilisierungen ist eine politische Polarisierung eingetreten, die nicht nur der AfD zu ungeahnten Wahlerfolgen verholfen hat, sondern auch die Zivilgesellschaft aufgemischt hat. Wir brauchten dringend eine Zwischenbefragung, die präzisere Informationen über die aktuelle Verfassung der Zivilgesellschaft und des freiwilligen Engagements bietet.
Warum ist es für die Bundesregierung gut, wenn Deutschland mit 43,6 Prozent als Paradies für freiwilliges Engagement verkauft werden kann?
Ich bin mir nicht sicher, ob die großen Zahlen für irgend jemanden gut sind, wenn sie eher „postfaktischen“ Charakter haben. Auf den ersten Blick können sich Bund und Länder in ihrer Engagementpolitik bestätigt sehen – sogar die Bundesländer die fast gar nichts getan haben. Dennoch fiel der Jubel eher verhalten aus, bieten doch die guten Zahlen auch die Möglichkeit, Engagementpolitik einzustellen. Immerhin macht der FWS 2014 jenseits hoher Quoten noch einmal deutlich, wie sehr die Chance, Bereitschaft und Fähigkeit zum Engagement vom sozialen Status und vom Bildungsniveau abhängig ist – gesellschaftliche Ungleichheiten, die durch Engagementpolitik allein wohl kaum überwunden werden können.
Hinter den Kulissen räumen zumindest einige Ländervertreter ein, dass sie den neuen Freiwilligen-Survey für „unbrauchbar“ halten. Sie können mit den Jubelzahlen auf Länderebene nichts anfangen. Früher wurden stets separate Länderauswertungen gemacht.
Es gibt sie ja auch dieses Mal, sie gehen wohl aber über eine deskriptive Statistik kaum hinaus. In früheren Länderauswertungen wurde zumindest der Versuch gemacht, auf die Besonderheiten des jeweiligen Landes und seiner Engagementkultur einzugehen. Solche Hinweise werden wohl vermisst, obwohl die beteiligten Länder erheblich in die Studie investiert haben.
Der neue Survey ist von der Anlage mit den Vorgängerstudien nicht vergleichbar. Das heißt: sinnvolle Zeitreihen-Vergleiche über die Jahre sind nicht mehr möglich.
Darin sehe ich das größte Ärgernis. Sicherlich gab es auch an den drei Vorgängersurveys berechtigte Kritik, aber sie haben zumindest Entwicklungen im Engagement kenntlich machen können. Auch wenn sich das Autorenteam verbal in diese Tradition stellt, tut es doch viel für einen methodischen Bruch und ist auch stolz darauf. Es gibt keine sinnvolle Möglichkeit die Daten des FWS 2014 mit denen der Vorgänger zu vergleichen und Entwicklungen zu beschreiben.
Wie erklären sie sich diesen Dilettantismus?
Darüber könnte ich nur spekulieren. Aber offensichtlich gibt es ein Kontrollversagen der zuständigen Unterabteilung im BMFSFJ. Der Bericht hätte in dieser Form, die keinen sinnvollen Bezug zu den früheren Surveys ermöglicht und damit den Auftrag eines Surveys verfehlt, längere Zeitreihen zu ermöglichen, nicht akzeptiert werden dürfen.
Dafür wurden mehr als zwei Millionen „spendiert“, fast doppelt so viel wie bei den Vorgänger-Untersuchungen.
Hinzu dürften ja noch die Mittel der Bundesländer gekommen sein – wahrlich ein fetter Brocken.
Die offiziellen Ehrenamts-Organisationen wie etwa der Dachverband BBE schweigen in der Öffentlichkeit zu dieser Art spekulativer Forschung, die mit den täglichen Erfahrungen der Praktiker nicht in Einklang zu bringen ist. Warum?
Es ist in der Tat auffällig, dass Kritik doch eher verhalten geäußert wird. Nur viele der Kolleginnen und Kollegen, die an den früheren Surveys beteiligt waren, sind entsetzt. Das Gros der Fachleute schüttelt den Kopf oder verfolgen eingeschüchtert einen „Methodenstreit“. Dies liegt sicherlich auch an der komplizierten Materie, die mehr als ein sozialwissenschaftliches Grundstudium erfordert. Es wäre zu wünschen, dass die Ehrenamtsorganisationen stärker auf ihre eigenen Erfahrungen vertrauen und diese in der Debatte zur Geltung bringen.
Insider sagen, dass 80 Prozent der Ehrenamtsstrukturen vom Steuertopf des Staates abhängen. Ist das ein Grund für diese auffällige Zurückhaltung?
Es gibt sicherlich kein Schweigegelübde, aber es ist bisher nicht gelungen, angemessene Finanzierungsformen für die Engagementpolitik zu entwickeln. Es gab von den Verantwortlichen des Ministeriums in dieser Legislatur einen zukunftsorientierten Vorschlag für eine Ehrenamtsstiftung, in der auch die Zivilgesellschaft selbst – analog zur Bundeskulturstiftung – über Förderschwerpunkte und die öffentliche Mittelvergabe zumindest mitentscheidet – leider ohne Erfolg. Dies ist für eine selbstbewusst auftretende Zivilgesellschaft sicherlich nicht förderlich. Die direkte Abhängigkeit von öffentlichen Mitteln begünstigt leider eine Kultur, in der Kritik oft nur hinter vorgehaltener Hand vorgetragen wird.
Zum Konstruktiven: Können die PR-Zahlen zum Engagement durch eine Neubearbeitung und Neugewichtung – also durch nachvollziehbare Korrekturen auf der Basis der Erhebung- realistisch angepasst werden?
Dies wäre im Sinne einer verlässlichen Zeitreihe sicherlich möglich und sinnvoll. Allerdings sind damit erhebliche Kosten verbunden. Dass dafür öffentliche Mittel – erneut – eingesetzt werden, ist unwahrscheinlich. Private Akteure und Stiftungen haben an den veralteten Daten des FWS 2014 kein Interesse.
Welche andere Lösungen dieser Form der regierungsamtlichen Aufwertung des Engagements haben Sie?
Ich habe nichts gegen eine Aufwertung des Engagements, wenn sie nicht „postfaktische“ Züge annimmt. Wir brauchen dringend einen realistischen Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen zivilgesellschaftlichen Engagements. Dazu gehört ein nüchterner Blick auf die weltweit zu beobachtende Zangenbewegung von Staat und Markt, die den Raum der Zivilgesellschaft einschränkt. Zivilgesellschaft droht dabei – trotz aller gegenteiligen Bekundungen – zum Ausfallbürgen in Gestalt einer Mitleidsökonomie zu werden, siehe „Tafeln“, aber auch Teile der „Flüchtlingshilfe“.
Ein idealer Survey: wie müsste so eine Befragung aussehen? Welche Erkenntnisse wären produktiv für die Analyse und Steuerung des Engagements vor Ort?
Warum nicht den Versuch einer partizipativen Bestandsaufnahme „von unten“ im Sinne von Citizen Science starten? Wir haben genügend Beteiligungsformate – Bürgerforen, BürgerInnenräte, Zukunftskonferenzen –, die dezentral aufgestellt dazu beitragen können, ein realitätsnahes und facettenreiches Bild des Engagements zu erhalten – und sich nicht von methodischen Entscheidungen eines Forschungsteams abhängig zu machen.
Ihre aktuelle Einschätzung: was brauchen die Ehrenamtlichen vor Ort wirklich an konkreter Unterstützung?
Wir benötigen generell Unterstützungsmodelle, die den Engagierten vor Ort möglichst große Gestaltungsmöglichkeiten einräumen. Fonds und Budgets, die es bereits in einigen Bundes- und Landesprogrammen gibt, können dazu beitragen, dass öffentliche Mittel nicht im Sinne staatlicher Steuerung eingesetzt werden, die den Eigensinn des Engagements untergräbt. Natürlich müssen sie transparent und demokratisch gestaltet werden. Es braucht Vernetzungen der neu Engagierten und der etablierten Verbänden, damit gemeinschaftlich „kollaborativ“ ein Engagementfeld gestaltet werden kann. Aber dies sind nur Beispiele
Zusammengefasst: Die Feuerwehren klagen über die Auszehrung des Ehrenamts; Sport-Trainer werden händeringend gesucht, auch die Flüchtlingshilfe sucht Kräfte, die auf Dauer anpacken. Warum lässt die Bundesregierung vor dieser Kulisse verbreiten, dass fast jeder zweite in Deutschland ehrenamtlich engagiert sein soll?
Die Neigung zu Hochglanz, zu postfaktischer Selbstdarstellung ist keine Erfindung von Donald Trump.
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