Streitgespräch über Naturschutz: Wildnis wagen? Oder lieber ins Netz?
Am Besten wäre es, Tiere zu besendern und auf Facebook zu verfolgen, sagt Alexander Pschera. Ulrike Fokken meint: Flora und Fauna sollte man sich selbst überlassen.
Ulrike Fokken: Herr Pschera, Sie behaupten, die digitale Vernetzung von Mensch und Tier sei ein effektiverer Naturschutz. Mit dieser Idee werden Tiere wieder nur zu Objekten gemacht. Tiere haben keinen Internetzugang und ob eine Rabenkrähe dem Internet jemals etwas abgewinnen kann, wissen wir nicht.
Alexander Pschera: Es geht nicht darum, dass die Tiere ins Netz gehen, sondern darum, sie als Datensubjekte zu begreifen. Natürlich werden die Tiere nicht um Erlaubnis gefragt, wenn man sie mit digitalen Sendern und Kameras ausstattet. Aber die Tiere sich selbst zu überlassen ist auch keine Lösung. Es gäbe bestimmte Arten nicht mehr, wenn wir sie nicht betreuen würden. Es ist keine Frage der Unterwerfung, sondern der Unterstützung. Unser Wissen über die Natur ist 1 Prozent. Die Zoologen brauchen mehr Daten, sonst stirbt das Draußen eben aus.
Fokken: Ich bezweifle, dass Daten sammeln Tiere schützt. Denken Sie an die unkontaktierten Stämme im Amazonas. Wenn die Kontakt zur Zivilisation haben, werden sie wohl aussterben, weil die Viren sie umbringen. Müssen wir diese Stämme also besendern, damit wir sie beschützen können? Ich denke nicht. Der einzige Schutz für nichtzivilisierte Menschen und Tiere im Amazonas, in der Antarktis oder den Tundren ist unser Nichtwissen.
Pschera: Das ist eine schrecklich romantische Vorstellung, die mit dem Ideal des Edlen Wilden verknüpft ist. Das Nichtwissen entlastet uns moralisch. Aber ist es auch vernünftig?
Fokken: Im Kern mag das romantisch sein. Aber es ist auch rational und klug. Wir wissen, dass die Hälfte der Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht ist. 12 Prozent der Welt stehen unter Schutz und trotzdem wird dort Gold abgebaut und nach Erdöl gesucht. Wir können Entscheidungen treffen, die das verhindern und die letzten Reservoire der biologischen Vielfalt erhalten.
Pschera: Aber warum nur Sumatra? Warum nicht der Spreewald? Warum sind Rebhühner weniger interessant als Schneeleoparden? Menschen lernen vor der eigenen Haustür. Leider hat der Artenschutz dazu geführt, dass wir das nicht mehr können. Pilze und Schmetterlinge sammeln steht heute unter Strafe. Das ist eine stalinistische Exklusion von Mensch und Natur. In einer Welt, in der immer mehr Systeme sich verflechten, ist der Gedanke, eines davon aus dieser Dynamik auszugrenzen, dumm. Besenderte Tiere können über Facebookaccounts wie in einer Soap-Opera verfolgt werden. Das ist kein Ersatz für Tiere in der Natur, aber eine Vorschule der Nähe.
ist Autor, Publizist und Übersetzer mit Schwerpunkt Medienphilosophie. In seinem Buch „Das Internet der Tiere. Der neue Dialog zwischen Mensch und Natur“ (Matthes & Seitz 2014, 186 S., 19,90 Euro) behauptet er, Technik entfremde uns nicht von der Natur, sondern stelle neue Nähe her.
Fokken: Zu viel Leben vor dem Monitor macht blöd und führt bei Kindern zu enormen Schwächen in Konzentration und Sprache. Kinder, die in die Natur gehen, sind entspannter, schlauer und kommen von allein auf die Idee, anderen zu helfen.
Pschera: Im Zeitalter der virtuellen Welten lockt kein ausgestopfter Tiger ein Kind aus dem Haus. Spielt man Realdaten von Tieren in einen digitalen Raum, kann man eine Brücke zwischen Natur und Technik schlagen. Meine These lautet: Es gibt eine neue Sinnlichkeit der Technologie.
Fokken: Das glaube ich nicht. Es handelt sich um den Versuch, eine technische Erfahrungswelt sinnlich zu erschließen. Neue Sichtweisen aber entstehen durch sinnliche Erlebnisse. Wer vier Stunden im Morgengrauen auf den Wolf wartet, schafft eine neue Erfahrungswelt. Lang anhaltende Naturerfahrung verändert unser Denken zum Positiven.
Pschera: Ich halte Ihre Betrachtungsweise für eine noch eine viel stärkere Instrumentalisierung der Natur: Wir brauchen die Natur, damit es uns besser geht. Wir müssen Natur verstärkt funktional und nicht nur kontemplativ und ichbezogen betrachten, um sie zu schützen. Dazu gehört auch die Frage, ob Natur etwas ist, was außerhalb von mir existiert, oder etwas, was ich selbst benenne. Wir gehören zur Natur, aber die Zivilisation ist der Sieg über die Natur. Es gibt keinen Reinraum Natur.
Fokken: Das sehe ich genau so. Wildnis und der Wilde ist ein europäisches Konstrukt, das die Kirche nutzte, um den Menschen von Trieben, Sumpf, Geistern und all dem zu trennen, das sie nicht kontrollieren konnte. In dem Sinne wurde im 16. Jahrhundert Amerika erobert und wurden die Menschen zu Wilden und das Land zur Wildnis erklärt.
Pschera: Es ist immer wieder schön, in Berlin zu sitzen und über Wildnis zu reden. Der Begriff ist aber kein Herrschaftsinstrument, weder ein weltliches noch ein kirchliches. Das, was wir im notwendigen Prozess der Zivilisation hinter uns lassen, nennen wir Wildnis. Und etwas, was überwunden ist, kann nicht als Projektion für die Zukunft dienen.
Fokken: Es ist nicht überwunden. Wildnis gibt es nicht und ist eine kulturelle Erfindung.
Pschera: Dann kann man sie auch nicht wagen, wie Sie in Ihrem Buchtitel behaupten.
Autorin, Publizistin (u. a. für die taz) mit Schwerpunkt Wirtschaft und Umwelt, Wildnispädagogin. „Wildnis wagen! Warum Natur glücklich macht“ (Ludwig Verlag 2014, 272 S., 19,99 Euro).
Fokken: Das ist beabsichtigte Provokation. Spricht man von Verwildern, dann macht sich Angst breit. Dabei kann man grade in Berlin auf verwilderte, verwucherte Gegenden treffen.
Pschera: Was ist der gesellschaftliche Nutzen davon?
Fokken: Es gibt beispielsweise riesige Flächen zum Gewässerschutz. Das sind unterirdische Wasserreservoire, auf denen oben das Land verwuchert. Im Boden hat das also einen zivilisatorischen Sinn.
Pschera: Ich plädiere für einen aufgeklärten Begriff von Wildnis. Aufklärung heißt immer Einbeziehung all dessen, was aufgefunden werden kann, einschließlich der Technik.
Fokken: Ist eine rein technische Betrachtung der Welt heute zeitgemäß?
Pschera: Auch wenn mir die Nerds und Cyborgs Angst machen, muss es möglich sein, eine Synthese von Technik und Natur zu erzeugen. Das Internet selbst ist eine Art Natur: gewachsen, chaotisch, unvorhersehbar. Natürliche Systeme nutzen ihre Ressourcen optimal aus. Das macht das Internet auch. Ob wir hier nicht eine weitere Ausprägung der Biophilie im Internet sehen?
Fokken: Tolle These. Aber was bedeutet das?
Pschera: Vielleicht, dass wir einen völlig falschen Naturbegriff haben. Vielleicht ist Metallurgie oder Schmiedekunst, wo Materie verfließt, auch Natur.
Fokken: Das ist es vermutlich auch, wenn man sich Vulkanausbrüche anguckt. Der Mensch kann nur erfinden, was es sowieso schon in der Natur gibt. Deswegen müssen wir anerkennen, dass die Welt nicht nur rational ist.
Pschera: Der Mensch ist ein Finder, kein Erfinder. Und die Wissenschaft ist nur eine Systematisierung dieses Suchens. Die Tiere sind uns in ihren Sinnen überlegen und können beispielsweise Naturkatastrophen viel früher erahnen. Dürfen wir dieses Wissen anzapfen?
Fokken: Warum nicht? Wir haben Schweine für Schnitzel domestiziert und Bullen zum Ackerfurchenziehen.
Pschera: Wir haben das Recht, eine neue Nutztiergeneration aufzubauen?
Fokken: Unter sehr hohen ethischen Kriterien schon. Dazu gehört, anzuerkennen, dass Tiere ein Bewusstsein und eine Seele haben mit einer eigenen Sprache und Schmerzempfinden.
Pschera: Trotzdem muss man Instrumente finden, um die Trennung zwischen Mensch und Tier aufrechtzuerhalten. Die Schnittstelle sind die Augen. Und das Internet der Tiere ist ein hilfloser Versuch, eine Schnittstelle zu beschreiben, um einen Blick auf Tiere zu bekommen, der sie nicht als peripher, banal, sondern als existenziellen Partner der Menschen ansieht. Als die Tiere noch Nutztiere waren, die der Bauer im Stall noch erleben konnte, war diese Partnerschaft besser.
Fokken: Veganer sind Auswirkungen der Trennung von Mensch und Natur. Sie versuchen ein Reinheitsideal zu leben. Das finde ich romantisch.
Pschera: Es ist aber auch eine Selbstverteidigung. Das Tier entweder in eine Legebatterie stecken oder es gar nicht mehr kennen, folgt der alten Ökologie des Ausschlusses. Aber wie können wir ein ökologisches Denken der Inklusion entwickeln? Das Erste, was der Naturschutz schützt, sind die Menschen. Ich träume von dem Moment, wo der Investmentbanker seinen Porsche vergisst und in den Pfeilgiftfrosch investiert.
Fokken: Das gibt es doch. Der Wunsch nach mehr sinnlichen Erfahrungen von Natur geht durch sämtliche Schichten. Ich habe schon mit Investmentbankern Laubhütten gebaut.
Pschera: Wir planen schon wieder im Matsch. Die meisten machen daraus doch ein ökonomisches Modell. Natur ist das große Investmentmodell der Zukunft. Da hört es bei mir auf.
Fokken: Ja, Natur ist Kapital. In einer durchökonomisierten Welt hat Natur nur eine Chance, wenn sie mit Wert versehen wird. Geld ist die einzige Sprache, die die Menschen verstehen.
Pschera: Und die digitalen Gadgets. Natur ist nur noch Kulisse für Freizeitaktivitäten. Man kriegt sie eben nur noch raus über ihre Gadgets.
Fokken: Es reicht, in den Stadtpark zu gehen oder an der Isar zu spazieren.
Pschera: Das ist doch eine elitäre Einstellung. Das muss man sich doch erstmal leisten können.
Fokken: Wieso? Das kann jeder Analphabet. Man muss nur genau hingucken. Für die App muss man erst mal ein Smartphone besitzen. Das ist wie Natur im Schaukasten oder Zoos angucken.
Pschera: Das sind neue Augen, keine Zoos.
Fokken: Meine Einstellung ist nicht elitär, sondern kostenneutral. Das Bewusstsein, was Sie als elitär bezeichnen, halten Leute im Amazonas für primitiv.
Pschera: Wahrscheinlich ist das Primitive heute das Elitäre. Meiner Meinung nach verändert das Erleben überhaupt nichts. Der Mensch ist ein Tier. Aber ein rationales. Da muss was durchs Hirn gehen, um es zu begreifen.
Fokken: Entscheidend ist es, zu den eigenen Teilen unserer Natur kommen. Es gibt nicht mehr genug Leute, die dieses hochkomplexe System, das wir aufgebaut haben, so weiterentwickeln können, dass es uns guttut. Das Naturerleben kann ein Weg sein, unsere geistigen Kapazitäten zu retten, um nicht nur theoretische Erfahrungen zu machen.
Pschera: Da kann man auch einen Malkurs oder eine Urschreitherapie machen.
Fokken: Klar.
Pschera: Einigen wir uns darauf, dass Beschreiben und Erfahren zwei komplementäre Teile sind, um uns Natur wieder näher zu bringen.
Fokken: In Ordnung.
Protokoll: Doris Akrap
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Klimakiller Landwirtschaft
Immer weniger Schweine und Rinder in Deutschland