Streitgespäch über rechten Terror: „Waren es drei oder vier oder mehr?“
Clemens Binninger (CDU) und Hans-Christian Ströbele (Grüne) über die Mitglieder des NSU, V-Männer und das Versagen der Behörden.
taz: Herr Binninger, vor drei Jahren flog in Eisenach der Nationalsozialistische Untergrund auf. Können Sie heute mit Sicherheit sagen, wer der NSU war?
Clemens Binninger: Nein, es gibt einfach zu viele unbeantwortete Fragen. Die Ermittlungsbehörden haben sich zwar auf das Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe festgelegt. Aber können drei Leute allein diese über ganz Deutschland verbreiteten Verbrechen begangen haben, über eine so lange Zeit? Niemand kann heute sicher sagen, aus wie vielen Leuten der NSU bestand oder besteht. Waren es nur drei oder vier oder mehr? Für mich ist das offen.
Herr Ströbele, die Vertreter der Nebenklage bezweifeln die Version eines Terror-Trios. Muss man beim NSU heute von einem Netzwerk oder gar einer Bewegung sprechen?
Hans-Christian Ströbele: Für mich sind eine ganze Reihe von Thesen aus der Anklageschrift gegen Beate Zschäpe nicht mehr haltbar. Natürlich gibt es ein sehr breites Unterstützernetzwerk, das den Terroristen bei ihrem blutigen Handwerk geholfen hat. Die entscheidende Frage ist, wie nah waren diese Leute dran? Haben die mal eine Wohnung gewährt, Waffen besorgt oder waren sie sogar direkt an einer Tat beteiligt? Für Letzteres habe ich keine Anhaltspunkte. Wir wissen aber auch nicht mit Sicherheit, ob Böhnhardt oder Mundlos immer die Täter waren. Es gibt Indizien, dass sie sehr eng damit zu tun hatten. Aber dass sie am Abzug waren, das ist in fast allen Fällen bis heute nicht bewiesen.
An welchen Stellen halten Sie die Anklage des Generalbundesanwalts für überholt?
Ströbele: Für mich ist die These, dass die Polizistin Michèle Kiesewetter ein reines Zufallsopfer war, nicht überzeugend – und da bin ich mir ja mir Herrn Binninger vermutlich sogar einig. Es gibt so viele Verbindungen vom Trio zur rechten Szene in Baden-Württemberg und zum Ku-Klux-Klan, umgekehrt gibt es vom Opfer Verbindungen zum KKK und nach Thüringen. Es muss einen Grund geben, warum genau diese Frau ermordet wurde.
Herr Binninger, der Verfassungsschutz hat nach dem 4. November 2011 lange versichert, den Begriff NSU habe niemand gekannt. Inzwischen rückt der Geheimdienst selbst von der Version eines Geheim-Trios ab. Wie viele wussten vom NSU und dessen Morden?
Binninger: Das kann man nicht seriös beantworten. Ich bin aber sicher, dass der Begriff Nationalsozialistischer Untergrund in der rechtsextremen Szene bekannt war. Es gab schließlich einen NSU-Brief, der einzelne Leute erreicht hat. Schon 2002 hat sich das Neonazi-Heft Der Weisse Wolf beim NSU bedankt. Dann gab es die NSU-CD, die der V-Mann „Corelli“ in Umlauf brachte. Ein Verfassungsschutzmitarbeiter hat uns sogar erzählt, eine Quelle habe ihm 2003 von einem NSU und einem Mundlos berichtet. Die andere Frage ist: Wusste jeder, was sich hinter dem Begriff verbirgt? Das glaube ich eher nicht.
75, saß für die Grünen im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags. Bevor er Abgeordneter wurde, verteidigte er als Rechtsanwalt unter anderem RAF-Terroristen. Stroebele ist das dienstälteste Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
52, war im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags Obmann der Union. Heute ist der Expolizist aus Baden-Württemberg Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKG).
Binninger: Ich glaube, dass es noch viele ungenutzte Ermittlungsansätze gibt. Wer den Begriff kannte, der wusste vielleicht wenigstens den Aufenthaltsort des Trios. Mir ist bis heute unerklärlich, dass deren Unterschlupf trotz so vieler V-Leute im Umfeld des Trios nicht bekannt wurde.
Herr Ströbele, hätten die Behörden wissen müssen, dass das abgetauchte Trio mordend durchs Land zog?
Ströbele: Es gab jedenfalls Anhaltspunkte, dass die sich Waffen besorgt haben. Auch der Begriff NSU war schon mindestens seit 2003 in der Szene bekannt und gebräuchlich.
Aber als Label für was?
Ströbele: Als Abkürzung für „Nationalsozialistischer Untergrund“. Aber ob man damit auch diese schrecklichen Morde und Banküberfälle verbunden hat, dafür haben wir bisher keine Beweise.
Wie wollen Sie das überhaupt noch beweisen?
Ströbele: Es gibt Anzeichen dafür, dass Leute anfangen zu reden, etwa der frühere V-Mann „Tarif“. Der behauptet, dass er gefragt worden sei, ob er das Trio unterbringen könne. Das habe er seinem V-Mann-Führer gemeldet, der gesagt habe: Bloß nicht! Dann habe er es gelassen. Es würde sich wirklich lohnen, V-Leute wie „Tarif“ endlich zu befragen.
„Vertrauensleute“ sind keine Geheimdienstmitarbeiter, sondern Extremisten, die dem Verfassungsschutz regelmäßig gegen Geld Informationen liefern.
Im NSU-Umfeld bewegte sich unter anderem Carsten Sz. alias "Piato". Er lieferte 1998 Hinweise zum Aufenthaltsort des Trios, die aber aus Quellenschutzgründen nicht an die Fahnder weitergegeben wurden. Thomas R. alias „Corelli“ spitzelte fast 20 Jahre für den Verfassungsschutz. Im Herbst 2012 wurde er enttarnt und dann im Frühjahr dieses Jahres tot aufgefunden, bevor er erneut befragt werden konnte. Angeblich starb R. an einer unentdeckten Diabetes-Erkrankung.
Als Konsequenz empfiehlt der NSU-Ausschuss des Bundestags in seinem Abschlussbericht eine Neuregelung für Auswahl und Arbeit von V-Leuten. Grüne und Linke wollen das Spitzelwesen ganz abschaffen. Die von Bund und Ländern angekündigte zentrale V-Mann-Datei wurde bis heute nicht eingerichtet. Der Verfassungsschutz beklagt, dass er inzwischen kaum noch Neonazis als V-Leute verpflichten kann. (se)
Der langjährige Top-V-Mann „Corelli“, bei dem viele Fäden aus dem NSU-Umfeld zusammenliefen, ist inzwischen tot.
Ströbele: Deswegen müssen wir uns jetzt bei den anderen beeilen.
Am 4. November 2011 werden die seit Jahren untergetauchten Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos nach einem Banküberfall tot in ihrem ausgebrannten Wohnwagen im thüringischen Eisenach gefunden. Bei ihnen werden die Waffen der 2007 ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter und ihres schwer verletzten Kollegen entdeckt.
Am gleichen Tag geht im sächsischen Zwickau die Wohnung in Flammen auf, in der Mundlos und Böhnhardt gemeinsam mit ihrer Freundin Beate Zschäpe gelebt hatten. Es werden zahlreiche Hinweise gefunden, die auf Verbindungen deuten zwischen dem Polizistenmord von Heilbronn und einer Mordserie, der in den Jahren 2000 bis 2006 quer über die Republik verteilt neun Migranten zum Opfer gefallen waren.
Vier Tage später stellt sich Zschäpe der Polizei. Der Bundesgerichtshof erlässt Haftbefehl wegen des dringenden Verdachts der Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie besonders schwerer Brandstiftung. (pab)
Herr Binninger, ist das nicht eine vage Hoffnung, dass aus den V-Leuten viel herauszuholen ist? „Corelli“ hat die Ermittler systematisch belogen.
Binninger: Nur zur Erinnerung: Wir hatten uns im Untersuchungsausschuss über alle Fraktionen hinweg dagegen ausgesprochen, die V-Leute als Zeugen zu vernehmen. Diesen Neonazis wollten wir angesichts des Leids der Opfer keine Bühne bieten. Wir haben uns auf die V-Mann-Führer konzentriert, weil wir dachten, da bekommen wir verlässlichere Antworten.
Wenn Sie heute das V-Mann-Wesen bilanzieren, Herr Binninger, finden Sie da nicht auch, dass diese Leute der Aufklärung mehr im Weg standen, als dass sie genützt hätten?
Binninger: So wie die V-Leute im Bereich des Rechtsextremismus eingesetzt wurden, standen Aufwand und Risiko wirklich in keinem Verhältnis zum Erkenntnisgewinn. An manchen Stellen hat der Rechtsstaat sogar eine rote Linie überschritten, wenn er Leute wie „Piato“ als V-Mann angeworben hat, die wegen versuchten Mordes im Gefängnis saßen. Das darf nicht sein. Deshalb muss das V-Mann-Wesen grundsätzlich reformiert werden.
Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Yunus Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter – zehn Namen, zehn Ermordete. Opfer des NSU wie die mehr als 20 Menschen, die bei zwei Bombenanschlägen in der Probsteigasse und der Keupstraße in Köln zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden.
„Wir fühlen mit denen, die damals an Körper und Seele verwundet wurden, mit ihren Familien und Freunden“, sagte Bundespräsident Joachim Gauck Anfang Juni in Köln. "Wir denken auch daran, wie viele Betroffene sich später alleingelassen oder als Verdächtige behandelt fühlen mussten."
Inzwischen gibt es in mehreren Städten, die Tatorte waren, Gedenkstätten, etwa Tafeln mit den Namen der Mordopfer in Heilbronn, Kassel und München sowie Mahnmale in Dortmund, Nürnberg und Rostock. In Köln wird über ein solches Mahnmal an der Keupstraße bis heute noch diskutiert. (pab)
Das geht?
Binninger: Ja, ich rücke da nicht grundsätzlich von ab. Allerdings brauchen wir klare Standards für den V-Mann-Einsatz. Wir werden immer wieder mit Situationen konfrontiert, wo sich eine kleine Gruppe von Extremisten so abschottet, dass nichts nach außen dringt. Da kann der V-Mann das einzige Instrument sein, drohende Gewalttaten zu verhindern.
Stimmen Sie dem zu, Herr Ströbele?
Ströbele: Nein.
Binninger: Ihr wollt den Verfassungsschutz ja sowieso abschaffen und in eine Art Bundeszentrale für politische Bildung mit strategischem Aufklärungsmoment umwandeln.
Ströbele: Die V-Leute im rechten Bereich schaden mehr, als sie nutzen, deshalb sehe ich überhaupt keinen Sinn in deren Einsatz. Sie haben sehr selektiv Informationen weitergegeben, sie wussten viel mehr, wollten aber den „Kameraden“ nicht schaden. Für die Infos haben sie sehr viel Geld bekommen, das sie zu guten Teilen wieder in die Bewegung gepumpt haben. Das Allerschlimmste ist aber, dass V-Leute wie Thomas Starke ihre V-Mann-Führer in die Irre geführt und damit mögliche Aufklärungsansätze vereitelt haben.
Seit dem 6. Mai 2013 verhandelt das Oberlandesgericht München gegen die Hauptangeklagte Beate Zschäpe sowie vier mutmaßliche Helfer und Unterstützer.
Die Bundesanwaltschaft wirft Zschäpe unter anderem mehrfachen Mord, versuchten Mord und besonders schwere Brandstiftung vor. Wegen Beihilfe zum Mord angeklagt sind der ehemalige NPD-Funktionär Ralf Wohlleben und Carsten S., der früher ebenfalls in der NPD aktiv war. Wegen Unterstützung des NSU müssen sich die aus der Kameradschaftsszene stammenden Holger G. und André E. vor Gericht verantworten.
Am kommenden Dienstag findet der 155. Verhandlungstag statt. Die Beweisaufnahme zu zehn Morden, zwei Sprengstoffanschlägen und 15 Raubüberfällen ist äußerst umfangreich. Nach dem jetzigen Stand wird das Verfahren noch bis weit in das Jahr 2015 laufen. Viele Zeugenvernehmungen stehen noch aus. So ist der Komplex um den Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße bislang noch nicht behandelt worden. (pab)
Herr Binninger, hat der Verfassungsschutz überhaupt bei der Aufklärung des NSU-Skandals geholfen?
Binninger: Unterschiedlich. Die Thüringer haben uns intensiv unterstützt, wohl im Bewusstsein, wie viel da schiefgelaufen war. Der Verfassungsschutz in Baden-Württemberg hingegen war nicht sonderlich kooperativ. Auch das Verhältnis zum Bundesamt für Verfassungsschutz war lange konfliktbehaftet, bevor es sich dann besserte.
Ströbele: Aber der Verfassungsschutz hat doch immer noch nicht den Ernst der Lage begriffen. Bis heute zeigen viele kein besonderes Interesse und es fehlt der Fahndungsbiss. Nach wie vor steht der Quellenschutz vor allem anderen. Spätestens nach dem plötzlichen Tod ihres Top-Spitzels „Corelli“ hätten die doch Himmel und Hölle in Bewegung setzen müssen – bei einem solchen „Tatort“-Fall. Auch die kürzlich aufgetauchte NSU-CD hat der Verfassungsschutz ja nicht einmal selbst in seinem Archiv gefunden, da musste erst das Bundeskriminalamt die Akten des BfV filzen.
Vor Kurzem haben Sie den ehemaligen Grünen-Abgeordneten Jerzy Montag als Sonderermittler eingesetzt, um das Treiben des dubiosen Spitzels „Corelli“ aufzuklären. Glauben Sie, dass er da wirklich noch etwas herausfinden kann?
Ströbele: Zunächst einmal hat er die Zeit, intensiv in die vielen Akten zu schauen, die etwa beim Verfassungsschutz liegen. Aber er soll natürlich auch Leute dazu befragen, sowohl beim Verfassungsschutz als auch anderswo. Den genauen Auftrag werden wir noch festlegen. Er kann uns Abgeordneten dann möglicherweise sagen: Diesen Punkten solltet ihr euch nochmal widmen.
Ist Herr Ströbele insgesamt unfair zu den armen Verfassungsschützern?
Binninger: Man sollte die Arbeit des Verfassungsschutzes objektiv kontrollieren. Ob man das kann, wenn man ihn sowieso auflösen will, bezweifle ich. Natürlich darf der Quellenschutz nicht absolut sein, schon gar nicht bei einer Verbrechensserie mit zehn Morden und zwei Sprengstoffanschlägen. Da waren sich übrigens alle Fraktionen im Untersuchungsausschuss einig. Aber es gibt Gegenbeispiele, wo V-Leute sehr nützlich waren.
Dennoch geht diese Quellenschutz-Praxis weiter. Der Brandenburger Verfassungsschutz wollte gerade erst seinen wichtigen Ex-V-Mann „Piato“ nicht im Münchner Prozess aussagen lassen.
Binninger: Es wird wohl noch ein bisschen dauern, bis sich der Bewusstseinswandel wirklich durchsetzt. Wir sind deshalb aufgefordert, immer wieder zu hinterfragen: Was habt ihr geändert?
Ströbele: Aber das Schlimme ist doch: Verfassungsschützer, die schrecklich versagt haben, machen im rechten Bereich weiter, klettern sogar noch die Karriereleiter hoch. Der unsägliche V-Mann-Führer von „Piato“ steht inzwischen an der Spitze des Verfassungsschutzes in Sachsen und soll den aufmöbeln. Und ausgerechnet der damalige Vize-Präsident des BfV, der ab 1999 alle Jahre wieder in den Bundesverfassungsschutzbericht reinschrieb, es gebe keine Gefahr von Rechtsterrorismus, sitzt heute im Kanzleramt als oberster Geheimdienstmann in Deutschland. Das kann doch nicht richtig sein.
Binninger: Natürlich war es eine verheerende Fehleinschätzung, dass man immer von Einzeltätern ausging, sobald Waffen ins Spiel kamen. Aber man kann doch nicht denen, die diese Fehleinschätzung trafen, bei aller berechtigter Kritik, für alle Zeiten die Eignung abzusprechen. Das fände ich nur gerechtfertigt, wenn die Betroffenen wider besseres Wissen gehandelt hätten.
Aber die Aktenschredderei beim Verfassungsschutz lief ja, nachdem der NSU enttarnt war.
Binniger: Wir können da nicht über alle Details öffentlich reden, aber meines Wissens arbeitet derjenige, der für diese Schredderaktionen verantwortlich war, inzwischen nicht mehr beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Es bleibt aber die entscheidende Frage, ob da wider besseres Wissen gehandelt wurde.
Ströbele: Nein, das ist überhaupt nicht die entscheidende Frage. Es geht doch um Totalversagen. Es muss möglich sein, solche Versager abzulösen.
Binninger: Herr Kollege, wir müssen uns doch auch selbst mal den Spiegel vorhalten. Niemand von uns hat den Zusammenhang zu den Morden gesehen, auch nicht, als das Trio am 4. November 2011 aufflog, und nicht, als wenig später klar war, dass die drei Bombenbastler aus Jena die mutmaßlichen Polizistenmörder von Heilbronn sind. Das muss uns doch auch zu denken geben. Warum hat da noch immer niemand die Verbindung zur Mordserie erkannt? Deshalb finde ich es schwierig, über andere so kategorisch zu urteilen, wenn wir selbst auch falsch lagen.
Herr Ströbele, Sie greifen die Sicherheitsbehörden hart an. Aber die Grünen bekleckern sich auch nicht mit Ruhm bei der parlamentarischen Aufklärung der NSU-Affäre. Im grün-roten Baden-Württemberg war das bisher eine Totalblamage, im schwarz-grünen Hessen lief es nicht viel besser. Warum hauen Sie nicht mal auf den Tisch?
Ströbele: Woher wissen Sie, dass ich das nicht tue? Das ist natürlich ein Problem und ich weiß auch, was Koalitionszwänge sind. Ich bin froh, dass wir jetzt in Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen doch Untersuchungsausschüsse bekommen.
Wie beurteilen Sie die Aufklärungsarbeit der Grünen in den Ländern, Herr Binninger?
Binninger: Ich habe in Baden-Württemberg und NRW einen Untersuchungsausschuss gefordert. Wo Sie, Herr Ströbele, das lautstark verlangt haben, wüsste ich allerdings nicht.
Ströbele: Sie sind ja mit der CDU dort auch nicht mehr an der Regierung.
Binninger: Ich habe im Bundestagsuntersuchungsausschuss gezeigt, dass mir die Aufklärung wichtiger ist, als irgendjemanden zu schonen. Deshalb war es für mich völlig klar, auch für Baden-Württemberg einen Ausschuss zu fordern, obwohl es ja schwerpunktmäßig unsere Regierungszeit betrifft. Die Grünen im Land habe ich ehrlich gesagt nicht verstanden. Immerhin hat Parteichef Cem Özdemir sich dann deutlich positioniert.
Angesichts der vielen Merkwürdigkeiten blühen inzwischen Verschwörungstheorien rund um den NSU. Wie viel ist denn bislang in der Affäre überhaupt aufgeklärt?
Binninger: Zwei Drittel vielleicht? Auch um Verschwörungstheorien widerlegen zu können, halte ich es für unsere Pflicht, dass wir mehr herausfinden. Wir wissen noch immer nicht, wie die Tatorte ausgewählt wurden, wie die Taten abliefen und warum genau diese zehn Menschen getötet wurden. Warum gab es vier Morde in den Jahren 2000 und 2001 und dann zweieinhalb Jahre Pause? Weshalb gab es zwei Morde in drei Tagen – in Dortmund und Kassel? Warum hörte danach diese Serie auf, warum folgte dann der Polizistenmord? Und wieso danach nichts mehr? Antworten auf diese Fragen sind aber gerade für die Angehörigen wichtig, um zu ihrem inneren Frieden zu kommen.
Welche Frage beschäftigt Sie persönlich am meisten?
Binninger: Neben dem Polizistenmord in Heilbronn ist es für mich die Frage, was genau am 4. November in Eisenach und Zwickau ablief. Das konnten wir mangels Zeit im Untersuchungsausschuss nicht mehr beleuchten.
Für die Ermittler gibt es da eine klare Antwort: Mundlos erschoss erst Böhnhardt und dann sich selbst im Wohnmobil, weil die Polizei ihnen auf die Pelle gerückt war. Wo sehen Sie da noch Klärungsbedarf?
Die Taten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) und die Rolle der Sicherheitsbehörden beschäftigten und beschäftigen mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse.
Als Erste nahmen die U-Ausschüsse des Bundestags und des Thüringer Landtags im Frühjahr 2012 ihre Arbeit auf. Sie haben inzwischen umfangreiche Abschlussberichte vorgelegt. Beide Ausschüsse konstatieren ein kapitales Versagen von Inlandsgeheimdiensten und Strafverfolgungsbehörden.
"Im günstigsten Fall steht hinter dem festgestellten umfassenden Versagen vieler Akteure schlichtes Desinteresse am Auffinden der drei Gesuchten" Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, heißt es in dem 1.800 Seiten starken Thüringer Bericht. „Die Häufung falscher und nicht getroffener Entscheidungen und die Nichtbeachtung einfacher Standards lassen aber auch den Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen zu.“
In Sachsen, Bayern und Hessen tagen die Ausschüsse noch, in NRW steht eine Einrichtung am 5. November auf der Tagesordnung des Landtags. (pab)
Binninger: Diskutiert wird ja beispielsweise über eine Patronenhülse, die angeblich zu viel im Wohnmobil war. Wir müssen uns die gesamte Spurenlage in Zwickau und Eisenach in den Originalakten zeigen lassen, nur so können wir Zweifel ausräumen, dass Dritte beteiligt waren.
Ströbele: Für mich ist überhaupt nicht nachvollziehbar: Warum bringen sich Böhnhardt und Mundlos nach dem Banküberfall am 4. November überhaupt um? Die waren ja keineswegs in einer ausweglosen Situation.
Die Ermittler sind vom Doppelselbstmord überzeugt.
Ströbele: Für mich bleibt da Entscheidendes ungeklärt. Böhnhardt und Mundlos sitzen hochbewaffnet in ihrem Wohnmobil. Dann nähert sich ein einzelner Polizeistreifenwagen mit ein oder zwei Polizisten den angeblichen Superkillern. Anders als anfangs dargestellt, waren die mitnichten eingekreist. Trotzdem sollen sie den einzigen Ausweg darin gesehen haben, sich selber umzubringen und dieses Wohnmobil in die Luft zu jagen? Das will mir einfach nicht in den Kopf. Was ist da vorgefallen und waren sie wirklich allein? Das ist für mich ein immer größeres Rätsel.
Drängt sich nicht angesichts solcher zentralen Ungereimtheiten ein zweiter NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag auf – und wann entscheiden Sie das?
Binninger: Der Maßstab ist für mich nicht die Entdeckung der 28. Behördenpanne oder des 29. Ermittlungsversagens. Ich sähe uns in der Pflicht, wenn sich an den tragenden Elementen der NSU-Erzählung etwas ändert. Wenn sich etwa die Indizien häufen, dass es doch mehr als drei Mitglieder der Terrorzelle gab oder die Polizistin Kiesewetter kein Zufallsopfer war. An diesem Punkt sind wir aber noch nicht.
Ströbele: Da gebe ich meinem Kollegen recht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden