Streit um Brexit-Regeln für Nordirland: Schwierige Protokollfragen
Großbritannien und die EU legen Ideen zur Lösung der Spannungen vor. Grundsätzliche Differenzen bleiben ungeklärt.
An Nordirland waren die Verhandlungen um den britischen EU-Austritt ab 2017 jahrelang festgefahren. Wie kann die innerirische Grenze komplett offen bleiben wie bisher, wenn sie eine EU-Außengrenze wird – ohne stattdessen eine EU-Außengrenze zwischen Nordirland und Großbritannien zu ziehen, also innerhalb des Vereinigten Königreiches? Nur die Erfüllung beider Bedingungen garantiert einen Fortbestand des Nordirland-Friedens.
Eine 2018 vereinbarte Lösung – das gesamte Vereinigte Königreich verbleibt bis auf Weiteres im EU-Zollgebiet, der sogenannte Backstop – scheiterte im britischen Parlament, was die damalige Premierministerin Theresa May zum Rücktritt zwang. Der neue Premier Boris Johnson erfand im Oktober 2019 eine neue Lösung: Es verläuft zwar eine Zollgrenze zwischen Großbritannien und Nordirland, aber sie betrifft nur Waren aus Großbritannien für die Republik Irland, nicht für Nordirland.
Nach Inkrafttreten Anfang 2021 verstanden das beide Seiten aber unterschiedlich. Die Briten machten so wenig wie möglich und hofften, dass es nicht auffällt. Die EU bestand auf vollen Kontrollen, damit nur solche Waren in Nordirland verkauft werden, die mit dem europäischen Binnenmarkt kompatibel sind. Viele britischen Firmen stellten ihre Belieferung Nordirlands ein, weil ihnen das zu umständlich war. Es gab Unruhen, der Frieden in Nordirland – den die Regelung eigentlich bewahren soll – schien stärker gefährdet als seit Jahren.
London verlangt Neuverhandlungen
Am Ende setzte Großbritannien Kontrollen komplett aus und verlangte Neuverhandlungen. Es dürfe grundsätzlich keine EU-Zollkontrollen innerhalb des Vereinigten Königreiches geben, verlangt London – beispielsweise wenn britische Supermarktketten ihre nordirischen Filialen beliefern. Sonst behalte man sich Maßnahmen nach Artikel 16 des Nordirland-Protokolls vor, die einseitige Schritte zulassen, wenn die Anwendung des Protokolls „ernsthafte ökonomische, soziale oder ökologische Schwierigkeiten von Dauer“ verursacht.
Der britische Brexit-Chefunterhändler David Frost verwies am Dienstag in einer Rede darauf, dass das Protokoll entstand, als der Brexit noch in der Schwebe war und niemand wusste, ob jemals ein Freihandelsabkommen zustande kommt. Dies wurde Ende 2020 vereinbart, manches im Protokoll von 2019 sei damit überflüssig, argumentiert die britische Regierung.
Die EU-Kommission schließt hingegen eine Neuverhandlung aus. Sie ist bereit, die im Protokoll enthaltene „Flexibilität“ nutzen, weiter könne man aber nicht gehen, heißt es in Brüssel. Zu den genauen Vorschlägen, die am Mittwochabend vorgelegt werden sollten, gehört eine Lockerung der bisher sehr strikten Kontrollen – britische Medien haben vorgerechnet, dass bis zu 20 Prozent sämtlicher Warenkontrollen der EU gegenwärtig auf Nordirland mit seinen unter zwei Millionen Einwohnern entfallen.
Weiterhin will die EU die Einfuhr von „identitätsbezogenen Produkten“ (identity related products) nach Nordirland erlauben, beispielsweise tiefgekühlte Würstchen aus England, an deren faktischem Verbot in Nordirland sich im Sommer Streit entzündet hatte. Auch bei Medikamenten und Pflanzenschutzmitteln will die EU künftig nicht mehr so genau hinschauen: Das sind Bereiche, in denen viele britische Produkte zuletzt in Nordirland nicht mehr erhältlich waren. Die britischen Produkte sollen als solche gekennzeichnet werden, damit es keine Probleme im Binnenmarkt gibt.
Derzeit misstrauen sich beide Seiten
Wirtschaftskreise sehen in den EU-Vorschlägen eine gute Grundlage für eine Annäherung. Am Ende wird es darauf ankommen, ob sich die beiden Seiten vertrauen. Derzeit ist das nicht der Fall – das ist der politische Hintergrund des Streits.
Zum ökonomischen Hintergrund gehört, dass Nordirland enger mit Großbritannien wirtschaftlich verflochten ist als mit der Republik Irland. Im Jahr 2019 gingen 16 Prozent aller Verkäufe nordirischer Waren nach Großbritannien, nur sechs Prozent in die Republik Irland, und Nordirland bezog dreimal so viele britische wie irische Waren. Neuere amtliche Daten liegen nicht vor, aber erste Erkenntnisse deuten auf einen Rückgang des britischen Anteils hin.
Parallel dazu verlagert sich aber Großbritanniens Export in die Republik Irland auf den Umweg Nordirland, weil man damit EU-Kontrollen umgeht. Die direkten britischen Warenströme in die Republik Irland, hauptsächlich über den walisischen Hafen Holyhead, sanken zwischen Februar 2020 und Februar 2021 um 65 Prozent, während die über Nordirland, die aus Liverpool sowie die kleineren Häfen Heysham und Cairnryan verschifft werden, trotz Pandemie und Protokollstreit um 4 Prozent zulegten.
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