Streik von Klinik-Beschäftigten in NRW: Gesundheit am Limit
Seit 40 Tagen streiken Beschäftigte der Uni-Kliniken in Nordrhein-Westfalen. Sie kämpfen für die Gesundheit der Patient:innen – und ihre eigene.
Schon seit dem 4. Mai läuft an den Klinik-Standorten Köln, Bonn, Aachen, Düsseldorf, Essen und Münster ein unbefristeter Streik – doch im Tarifstreit der nichtärztlichen Mitarbeiter:innen und ihrer Gewerkschaft Verdi ist keine Einigung mit den Vorständen der Uni-Krankenhäuser in Sicht.
Dabei wollen die etwa 50.000 Beschäftigten keine bessere Bezahlung. Sie fordern einfach nur Arbeitsbedingungen, die sie nicht selbst krank machen. Außerdem soll der von ihnen geforderte „Tarifvertrag Entlastung“, kurz TVE, sicherstellen, dass Patient:innen die Kliniken nicht noch kranker verlassen, als sie hereingekommen sind.
Warum der TVE unverzichtbar ist, erklären die Klinik-Mitarbeiter:innen seit Wochen. Unerträglich sei die Personalnot etwa auf der Intensivstation, auf der sie arbeite, sagt die onkologische Fachkrankenschwester Rita Gottschling. Die 42-Jährige sitzt vor dem Streikzelt neben dem Haupteingang des Klinikums Essen. „Wenn wir nicht einmal mehr Sterbenden beistehen können, ist das Psychoterror“, sagt Gottschling.
Kampf um jede Minute
„Was machst du, wenn gleichzeitig ein Patient in seinen Exkrementen liegt, du die Hand einer sterbenden alten Dame halten willst, die keine Angehörigen hat, und jemand reanimiert werden muss“, fragt die Intensivpflegerin: „Du reanimierst.“
Die Essener Intensivstation ist kein Einzelfall: Überlastet seien alle Bereiche der Uni-Klinik, sagt Physiotherapeutin Monika Blocks. „Wir bekommen immer mehr Patient:innen“, klagt die 34-Jährige, die in der „Stroke Unit“, also der Schlaganfall-Station, arbeitet. „Es gibt Menschen, die nach einem Schlaganfall kaum erweckbar sind, die sich gar nicht mehr allein bewegen können“ – und schwere Fälle würden natürlich jeden Tag „gesehen“.
Auf anderen Stationen sei eine solche Betreuung dagegen nicht möglich. „Wir Physiotherapeut:innen müssen jeden Tag entscheiden: Wer bleibt liegen, wen können wir heute nicht sehen“, sagt Blocks.
Doch vom Burn-out bedroht sind nicht nur Pflegekräfte und Therapeut:innen. „Die Kolleg:innen im Service, die Essen verteilen, Material auffüllen, Betten beziehen, kämpfen um jede einzelne Minute“, sagt Berna Kocak, die seit 26 Jahren als Reinigungskraft im Klinikum Essen arbeitet und als Mitglied der 70-köpfigen Tarifkommission für bessere Arbeitsbedingungen kämpft. „Früher konnten wir die Patient:innen trösten, ihnen Mut machen“, sagt die 55-Jährige. „Heute fehlt die Zeit für nette Worte.“
Reinigung unter Zeitdruck
Besonders unter Druck seien jene Reinigungskräfte, sagt Kocak, die nicht wie sie selbst noch beim Klinikum unter Vertrag stehen, sondern bei einer ausgegründeten Tochtergesellschaft. Vollzeitverträge gebe es bei dieser „Gebäude-Service-Gesellschaft“ kaum – und weil oft nur Mindestlohn gezahlt werde, seien die Kollg:innen von Überstunden abhängig, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.
„Die Kolleg:innen sind ängstlich, fürchten um ihren Job“, sagt Kocak. „Weil sie nicht beim Klinikum direkt angestellt sind, dürfen sie ja nicht einmal mit uns streiken.“ Akzeptiert würden mieseste Arbeitsbedingungen: „Jedes Mal, wenn der Mindestlohn erhöht wird, steigt auch die Zahl der zu reinigenden Quadratmeter“, sagt die Gewerkschafterin. So sei die Zeit, in der eine ganze Station gereinigt werden müsse, von sechs auf drei Stunden halbiert worden. Hygienekontrollen würden im Vorfeld angekündigt – dann werde besonders gründlich geputzt, ist aus Essen zu hören.
Auch Personalrat Gerd Küpper berichtet von einer enormem Belastung. Er vertritt als Mitglied der Tarifkommission die Beschäftigten, die Kranke transportieren oder Blutkonserven, die das Klinikum mit allen nötigen Materialien versorgen. Der Stress, die Arbeitsverdichtung mache die Mitarbeiter:innen auch hier krank, sagt der 40-Jährige: „In diesen Quereinsteiger-Berufen haben wir am Uni-Klinikum Essen mit 20 Prozent einen deutlich erhöhten Krankenstand“, sagt Küpper – im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung sind es 7 Prozent.“
Den Klinikleitungen schien ein längerer Arbeitskampf offenbar unvorstellbar. Zwar hatten die Beschäftigten ihnen schon im Januar ein 100-Tage-Ultimatum gestellt, zwar hatte die Gewerkschaft Verdi schon im April zu Warnstreiks aufgerufen. Dennoch war die Arbeitgeberseite erst am 16. Streiktag überhaupt zu Gesprächen bereit.
Notfallvereinbarung steht
Wortreich beklagt werden stattdessen die Folgen des Arbeitskampfs: „Etwa 1.420 Patienten“ hätten seit Streikbeginn „nicht operativ versorgt werden“ können, heißt es etwa vonseiten des Essener Klinikums. „365 OP-Saal-Tage“ seien ausgefallen, „16 OP-Säle“ seien aktuell geschlossen.
Über eine schon vor Streikbeginn abgeschlossene Notfallvereinbarung sei sichergestellt, dass alle dringend notwendigen Operationen und Behandlungen durchgeführt werden könnten, kontern Beschäftigte und Gewerkschaft. Merkwürdig sei allerdings, dass seit Streikbeginn auffällig viele Privatversicherte als Notfälle operiert werden müssten.
„Nicht der Streik gefährdet die Gesundheit der Patient:innen, sondern der Normalzustand“, kommentiert Intensivkrankenschwester Rita Gottschling die Vorwürfe der Arbeitgeberseite. Selbst die Essener Klinikleitung bestätigt: „Die lebensrettende Versorgung kritischst Kranker“ sei sichergestellt.
Erst am Donnerstag, 36 Tage nach Streikbeginn, haben die Klinik-Vorstände ein erstes, enttäuschendes Angebot vorgelegt. Verbesserungen soll es demnach nur für Mitarbeiter:innen geben, die unmittelbar am Bett pflegen. Über das „Pflegestärkungsgesetz“ des einstigen CDU-Bundesgesundheitsministers Jens Spahn können diese „bettennahen“ Stellen refinanziert werden – mehr Personal am Bett ist für die Kliniken also kostenneutral umsetzbar.
Kein Entgegenkommen
Aber für die Notaufnahmen, Ambulanzen, die OP- und Anästhesie-Pflege greift diese Refinanzierung nicht – und für Therapeut:innen, Stations-Assistent:innen, für Reinigungs- und Servicekräfte schon gar nicht. Für diese Berufsgruppen liegt aktuell keinerlei Entlastungsvorschlag auf dem Tisch.
Begründen wollen die Arbeitgeber das ausgerechnet mit dem Tarifrecht. Die Unikliniken dürften „nicht eigenständig oder als Gruppe einen Tarfvertrag mit Verdi verhandeln“, heißt es aus Essen – schließlich seien die sechs Krankenhäuser Teil des Arbeitgeberverbandes des Landes (AdL), der wiederum Teil der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) ist. Und weil die TdL Verhandlungen über einen Entlastungstarifvertrag verweigert habe, müssten die Uni-Kliniken erst einmal aus dem AdL austreten.
Dazu sei wiederum eine Änderung des Hochschulgesetzes nötig. Die hat die nach den Landtagswahlen vom 15. Mai nur noch geschäftsführende Landesregierung aus CDU und FDP angekündigt – beschlossen wird sie aber wohl erst von der neuen schwarz-grünen Landtagsmehrheit, die den Christdemokraten Hendrik Wüst am 28. Juni erneut zum NRW-Regierungschef machen soll.
Vorgeschoben sei das alles, findet Verdi-Gewerkschaftssekretär Jan von Hagen. „In Tarifgesprächen ist jeder Arbeitgeber verhandlungsfähig – natürlich auch die Vorstände der Uni-Kliniken.“ Tatsächlich konnten die Beschäftigten an der Berliner Charité und beim Krankenhauskonzern Vivantes im vergangenen Jahr Entlastungstarifverträge durchsetzen.
Keine Details
„Ein deutliches Signal“ erwartet Verdi-Mann von Hagen von CDU und Grünen: „Die beiden künftigen Regierungsparteien müssen klarmachen, dass die von uns geforderten Entlastungen keine Frage des Geldes sind – und vom Land vollumfänglich finanziert werden.“
Noch aber schweigen Christdemokraten und Grüne. Zwar hat CDU-Landesgesundheitsminister Karl-Josef Laumann schon im April verkündet, dass es einen „Tarifvertrag Entlastung“ geben soll, zwar hat Grünen-Chefin Mona Neubaur den Klinik-Beschäftigten immer wieder versichert, sie stehe an ihrer Seite.
Für wen die Entlastungen aber gelten sollen, ob auch „bettenferne“ Beschäftigte mit Unterstützung rechnen dürfen, ist weiter unklar: Wie zu allen anderen Themen auch dringt bisher kein Detail zu den Unikliniken aus den schwarz-grünen Koalitionsverhandlungen.
Für die streikenden Klinik-Mitarbeiter:innen heißt das: Sie werden noch Wochenlang kämpfen müssen. „Wir machen so lange weiter mit dem Streik, bis es ein akzeptables Tarifergebnis gibt“, erklärt nicht nur Verdi-Bundeschef Frank Werneke am Freitag bei der Demo in Düsseldorf. „Die Zeiten, in denen man mit uns alles machen konnte“, sagen in Essen auch Rita Gottschling und Berna Kocak, „die sind ganz, ganz sicher vorbei.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien
Zeitplan der US-Wahlen
Wer gewinnt denn nun? Und wann weiß man das?