Streik in Großbritannien: Der große Ausstand
Busfahrerinnen, Krankenpfleger, Postangestellte: Es sind die größten Streiks seit 30 Jahren. Überall fehlt es an Ressourcen.
Sie zählt auf, was sie stört: Unterbesetzung, Überarbeitung, immer schlechtere Arbeitsbedingungen, immer knapper werdendes Geld. „Uns bleibt wenig, obwohl wir bis an unser Limit bei der Arbeit gehen. Wir arbeiten sogar in unseren Pausen.“ Und es seien nicht nur die Angestellten, die davon betroffen seien. „Unsere kleinen Patient:innen leiden am meisten darunter, weil wir nie genug Zeit für sie haben.“ Laura Tossel fürchtet, dass angesichts dessen das Wohl der Patient:innen bald nicht mehr zu gewährleisten sei.
In Wales und England streiken an diesem Tag 100.000 Krankenpfleger:innen für mehr als die von der Regierung gewährte knapp vierprozentige Lohnerhöhung. Und sie sind nicht allein. Im Vereinigten Königreich sind gerade viele Beschäftige des öffentlichen Diensts im Streik. Bahnlinien liegen brach, die Post wird nicht zugestellt.
Laura Tossell streikt zum allerersten Mal in ihrem Leben. In der Klinik seien Kolleg:innen, die während des Streiks das Notwendigste übernehmen würden. „Wir lassen keine Patient:innen im Stich. Und dann konstatiert sie nüchtern: „Ich frage mich, ob ich mir die richtige Karriere ausgesucht habe, wenn man so hart für so wenig Geld arbeitet!“
Der größte Streik seit 30 Jahren
Einen Jobwechsel schließt Tossell nicht aus. Sie wäre nicht die Erste. Ein vorbeigehender Mann schaltet sich ein. „Selbst wenn wir diesen Kinderkrankenpfleger:innen doppelte Gehälter zahlen würden, ist es immer noch zu wenig“, findet Max Harding, ein Rechtsanwalt, der gerade mit seinem Sohn aus dem Krankenhaus kommt. Der 42-jährige Vater bezeichnet Tossell und ihre Kolleg:innen als wahre Held:innen.
Der Besuch am nächsten Tag beim streikenden Londoner Rettungsdienst im Stadtteil Islington ist atmosphärisch ein Kontrast zur Kinderklinik. Die Garage der Zentrale, in der die Krankenwagen stehen, liegt in einem Industriegebiet. Davor stehen 20 Angestellte, ohne zu singen oder zu skandieren. Alle tragen Dienstkleidung. Es ist ihr größter Streik seit 30 Jahren. Um Notrufe, bei denen es um Lebensgefahr geht, kümmern sie sich weiterhin.
Gewerkschaftsvertreter Terry Stubbs, seit 26 Jahren im Rettungsdienst, erzählt in ruhigem Ton, worum es geht. „Um den Arbeitsdruck, die langen Wartezeiten, die fehlenden Investitionen und natürlich um unsere Gehälter.“ Was sie innerhalb der letzten zehn Jahre an Lohnerhöhung bekamen, gleiche einer Lohnsenkung.
„Als ich vor 26 Jahren anfing, gab es 1.100 Notrufe, heute sind es 7.000 pro Tag, ohne dass wir ausreichend Krankenwagen oder Personal haben. Und wenn wir endlich im Krankenhaus ankommen, müssen wir oft stundenlang mit Patient:innen warten, weil es keine Aufnahmekapazität gibt.“ Das Warten dauert tatsächlich so lange wie noch nie. Der Stau der Krankenwagen vor den überlasteten Notaufnahmen wird immer größer und das gefährdet das Leben von Patient:innen.
Durchhalten bis zur Rente
Stubbs ist 59 Jahre alt und will noch bis zur Rente durchhalten. „Hier wurde lange nichts investiert“, kritisiert seine Kollegin Erin Whyte, eine 26-jährige Australierin, die aus ihrem Plan, nach Australien zurückzukehren, kein Geheimnis macht.
Wer an allem schuld sei? Für Terry ein klarer Fall: Die Tory-Regierung! „Sie können den öffentlichen Dienst nicht leiden und sparen ihn kaputt, um zu privatisieren“, glaubt er.
Im kalten Regen sitzt in Londons Stadtmitte vor dem Mount Pleasant Depot eine Gruppe streikender Postangestellter der Royal Mail, auf Gartenstühlen, mit Gewerkschaftsfahne und einer Gasheizung. Nebenan hat die Royal Mail nach ihrer Privatisierung ein riesengroßes Wohngebiet bauen lassen. Mit der Zustimmung von Boris Johnson, damals noch Londons Bürgermeister.
Die Postangestellten haben diesen Wohnkomplex jeden Tag vor Augen, ebenso wie die Tatsache, dass die Royal Mail 2022 einen Gewinn von 758 Millionen Pfund machte.
Unter der Bedingung, dass die taz keine Namen nennt, reden sie. Die, die hier versammelt sind, haben im Durchschnitt 30 Jahre Dienst hinter sich. „Als ich anfing, waren wir 2.500 Angestellte, heute sind wir etwa 150.“ Trotz der hohen Gewinne sei dieser treue Rest dem Vorstand nicht mehr als 2 Prozent Lohnerhöhung wert. „Eine Unverschämtheit!“, schimpft einer. Es stünden ihnen mindesten 10 Prozent zu, allein wegen der Inflation.
Am Tag darauf, es ist der 23. Dezember, stehen im strömenden Regen auf einer Verkehrsinsel vor dem Londoner Flughafen Heathrow ein Dutzend Angestellte der Grenzschutzbehörde. Ihr Job sind die Passkontrollen. Heute ist ihr erster Streiktag. Vorbeifahrende Autos und Busse hupen hin und wieder als Zeichen der Solidarität.
Knappe Ressourcen, viele Überstunden
In ihre Regenjacke gehüllt, erinnert sich die Gewerkschaftsvertreterin Dawn Paul, 57, wie es war, als sie vor 17 Jahren in den Dienst eintrat. „Es wirkte wie ein Job mit großer Verantwortung.“ Verletzliche Personen schützen, Terroristen oder Sexualverbrecher von der Einreise abhalten, das sei spannend gewesen.
Mit Beginn der Austeritätspolitik vor zehn Jahren wären die Ressourcen immer knapper geworden. „Wir haben einen Mangel an Arbeitskräften, weil wir hauchdünn über dem Mindestlohn verdienen. Die meisten von uns hatten in den letzten zehn Jahren keine Lohnerhöhung.“
Dawn glaubt, man schätze ihre Arbeit zu wenig. Sie erzählt von einer Mitarbeiterin, die vor Kurzem dazu gezwungen war, ihr Haus zu verkaufen, weil sie mit der Inflation ihre Lebenshaltungskosten nicht mehr stemmen konnte. Andere versuchten am Flughafen irgendwie etwas Essbares zu bekommen, berichtet ein Angestellter. Wegen des Personalmangels würden viele von ihnen Überstunden leisten. „Müdes Personal gefährdet die Sicherheit des Landes“, sagt Dawn.
Einer ihrer Kollegen verweist auf die zig Streiks, die Großbritannien in diesen Tagen stillstehen lassen: „Wir befinden uns womöglich vor einem riesigen Volksaufstand.“ Von den Rekordgewinnen bei Transport-, Energie- und Wasserunternehmen würden nur die Geschäftsführungen und Aktionäre profitieren. „Es reicht!“
Harter Kurs
Vor einer Busgarage im Südlondoner Stadtteil Walworth stehen an die 30 Busfahrer:innen von Abellio. Es ist eines von einem Dutzend Unternehmen, die sich in London die privatisierten Busaufträge teilen. Die Busfahrer:innen – alle sind Schwarz oder People of Color – glauben, dass sie bei Abellio einen der schlechtesten Deals in London haben.
Esther Matthews ist noch nicht lange dabei. „Ich fuhr vorher Reisebusse, aber als die Pandemie kam, reiste niemand mehr, es blieb nur noch der Stadtbus.“ Auch hier herrscht Personalmangel. „Unsere Schichten können zwölf, ja sogar vierzehn Stunden dauern. Wenn du einen Fehler machst, wirst du sofort gefeuert.“ Die Krönung sei, dass man binnen zwölf Jahren den Lohn nur um 4 Prozent erhöht habe. Ihr und den anderen Fahrer:innen reicht das Geld nicht, während das Unternehmen Profit in Milliardenhöhe macht.
An Weihnachten folgte landesweit ein Bahnstreik. Nach Silvester wird es weitergehen, auch Lehrer:innen und Physiotherapeut:innen wollen streiken. Und am 9. Januar wollen die Assistenzärzte darüber abstimmen, ob sie für höhere Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen streiken. Die Wahrscheinlichkeit, dass es ein Votum für Streik wird, ist groß.
Noch scheint die Regierung beim harten Kurs zu bleiben und will weiterhin nicht über höhere Gehälter verhandeln. Premierminister Rishi Sunak gab an, das Wichtigste sei die Bändigung der Inflation. In seiner Neujahrsansprache warnte er angesichts von Wirtschaftskrise, Inflation und Rezession vor einem schwierigen neuen Jahr. Der Premierminister behauptete zudem, die Regierung habe mit ihren Entscheidungen dafür gesorgt, dass es vor allem ärmeren Menschen besser gehe.
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