Straßenzeitung wird 30: Eine Demo zum Geburtstag
„Hinz&Kunzt“ aus Hamburg ist das größte Straßenmagazin Deutschlands. Es ist viel mehr als eine Zeitung. Zum 30. wird gefeiert, aber nicht nur.
A lle wollen loslegen, der Besprechungsraum im Keller ist vorbereitet. Ein Dutzend Erwachsene sitzt um einen großen Tisch. Darauf verstreut: Transparentpapiere in allen Farben, kleine Schüsseln mit Kleister und ein Haufen Luftballons. „Mindestens vier Schichten, sonst gibt’s Dellen!“, ruft Isabel Kohler und pustet einen Luftballon auf. Sie ist eine von drei Sozialarbeiter*innen im Haus des Hamburger Straßenmagazins Hinz&Kunzt. Sie hat das Laternenbasteln organisiert.
Empfohlener externer Inhalt
„Wir waren alle mal im Kindergarten“, entgegnet jemand, und alle lachen. Die Stimmung ist gut – das gibt der Anlass auch her. Gebastelt werden Laternen für das kämpferische Abschluss-Event der 30 Jahre Hinz&Kunzt-Geburtstagswoche: ein Laternenumzug gegen Obdachlosigkeit am Martinstag am 11. November, vom Hinz&Kunzt-Haus in St. Georg durch die Hamburger Innenstadt bis zum Rathaus.
„Was, wenn ich Dellen mag?“, fragt Sylvia Zahn, 64, während sie Transparentpapierschnipsel auf ihren Luftballon kleistert. Seit 16 Jahren arbeitet sie hier als Reinigungskraft. Sie hat gerade eineinhalb Jahre Krankheit hinter sich, musste sich von einer Lungen-Operation erholen. Jetzt kann sie wieder einsteigen. Darüber ist sie froh, sagt sie. „Aber die sind auch froh, dass ich wieder da bin – gibt’s wieder Kuchen!“
Torsten Meiners kommt direkt von einer Verkaufsschicht zum Basteln, im Gepäck ein durchsichtiger Kinderschirm mit kleinen Haien drauf, mit einem Knick an einer Seite. „Hab aus informierten Kreisen erfahren, dass es Samstag regnet“, sagt der 60-Jährige. Sylvia Zahn winkt ab.
Eine unbürokratische Verdienstmöglichkeit
Zahn ist eine von 37 Menschen, die bei Hinz&Kunzt fest angestellt sind. Über die Hälfte von ihnen sind ehemalige Verkäufer*innen, also Leute, die in ihrem Leben schon mal wohnungs-, obdachlos oder einfach in einer schwierigen Lebenssituation waren. Angestellten wie Zahn hat das Verkaufen der Zeitung Stück für Stück geholfen, wegzukommen vom Leben auf der Straße. Irgendwann kam die Festanstellung, heute wohnt Zahn in einer eigenen Wohnung.
Geschichten wie die von Zahn gibt es viele. Das liege auch daran, dass hinter dem Projekt eben mehr steckt als ein Magazin, das von Obdachlosen verkauft wird, erklärt Sozialarbeiterin Isabel Kohler. Hinz&Kunzt bietet Menschen, die es wirklich dringend gebrauchen können, eine unbürokratische Verdienstmöglichkeit.
Jubiläums-Gala, Fr, 10. 11., 19 Uhr, Uebel & Gefährlich, Feldstraße 66, mit Schrottgrenze, Fritzi Ernst, Zuckerschweine und Didine van der Platenvlotbrug, Tickets an der Abendkasse: 15 Euro, Soliticket 30 Euro
Demo und Laternenumzug, Sa, 11. 11., Treffpunkt 16 Uhr, Start 16.30 Uhr am „Hinz&Kunzt“-Haus, Minenstraße 9
Wer Verkäufer*in wird, bekommt nach einem ersten Gespräch einen Ausweis und kann dann am Tresen im Haus Zeitungen für 1,20 Euro einkaufen – und auf der Straße für 2,20 Euro wieder verkaufen. Wichtige Sprachen am Tresen sind neben Rumänisch auch Romani, Albanisch und Russisch, erklärt Flaviu Morariu, der im Vertrieb die Verkäufer*innen betreut.
Er ist auch für die Platzvergabe zuständig. Er erklärt: Verkäufer*innen müssen den Platz, an dem sie die Zeitung verkaufen, mit der Vertriebsabteilung absprechen. Am Anfang muss man sich den Platz jede Woche bestätigen lassen. Nach vier bis fünf Mal hat man sich dann einen eigenen Festplatz erarbeitet und braucht nur noch einmal im Monat die Bestätigung. „Wenn Verkäufer einen eigenen Stammplatz haben, ist das einmal gut für die Kundenbindung und außerdem gut gegen Konkurrenzdruck“, erklärt Morariu.
Dadurch, dass Menschen regelmäßig im Hinz&Kunzt-Haus vorbeikommen, um Plätze bestätigen zu lassen und neue Zeitungen zu kaufen, entstehe nach und nach eine Bindung ans Haus, erklärt Sozialarbeiterin Kohler. Vor Ort sitzen neben Kohler auch ihre beiden Kolleg*innen Jonas Gengnagel und Irina Mortoiu, die bei Bedarf Menschen beim Umgang mit Behörden oder etwa der Wohnungssuche unterstützen.
2021 ist Hinz&Kunzt in den Neubau in der Minenstraße gezogen. Der hat nicht nur Platz für die Geschäftsstelle, Zeitungsausgabe und ein Café, sondern auch für sechs Sozialwohnungen, momentan bewohnt von 24 ehemals obdachlosen Menschen – eine Familie und fünf WGs. In einer davon wohnt Markus Kiesewetter. Er ist 49. Drei Jahre habe er auf der Straße gelebt, erzählt er beim Laternenbasteln. Vor seinem Umzug sei er dann in einem viel zu kleinen und viel zu teuren Zimmer auf der Reeperbahn untergekommen. „Alles ist besser als die Straße, aber hier ist es richtig gut“, sagt er heute.
Sozialarbeiter Gengnagel ist Ansprechpartner für die Bewohner*innen im Haus. Der Bedarf nach günstigen Wohnungen ist groß. Wer einzieht, sei keine leichte Entscheidung gewesen, erklärt er. Es sei darum gegangen, wer dringend was braucht und sich vorstellen kann, in einer WG zu wohnen. Einige der jetzigen Mitbewohner*innen haben auch schon zusammen „Platte gemacht“, also das Schlafen draußen auf der Straße organisiert. Das sei eine gute Voraussetzung dafür, dass man sich im WG-Leben versteht. Und das ist wichtig, denn „das soll mal ein Ort sein zum Ankommen, wo man Wurzeln schlagen kann“, sagt Gengnagel.
Zwischen 260 und 310 Euro kostet ein Zimmer im Haus. In einer Stadt wie Hamburg ist das ziemlich günstig. Und bitter nötig. Während hier 1970 noch rund 50 Prozent aller Wohnungen Sozialwohnungen waren, sind es heute weniger als 10 Prozent.
Rund 45.000 Menschen in Hamburg stehen ohne Wohnung da und mindestens 2.000 Menschen ohne Obdach – also ganz ohne einen Drinnen-Schlafplatz. Die Zahlen stammen aus der zweiten Wohnungslosenstatistik des Bundes. Wie in allen Städten in Deutschland steigen die Zahlen an, vor allem seit der Coronapandemie.
Jörn Sturm, „Hinz&Kunzt“-Geschäftsführer
Menschen ohne Wohnung oder Obdach hat die Pandemie hart getroffen. Bei Hinz&Kunzt hat man sich März 2020 darauf geeinigt, das Verkaufen für 10 Wochen komplett einzustellen. In der Zeit danach konnten einige Verkäufer*innen wegen der Kontaktbeschränkungen nicht wie sonst arbeiten.
Auch für die Zeitung war es eine harte Zeit. Die Auflage hat sich seitdem noch nicht wieder erholt, wobei man nicht wissen könne, ob das an der Pandemie oder auch an der allgemeinen Krise der Printmedien liege, erklärt Hinz&Kunzt-Geschäftsführer Jörn Sturm. „Die Zeit der Traumauflagen von 180.000 im Monat, das waren die 90er, und die sind vorbei“, stellt Sturm in seinem Büro klar. Heute liege die Auflage der monatlich erscheinenden Zeitung eher so bei 50.000, Tendenz sinkend. „Wobei wir nicht den gleichen Rückgang haben wie andere Medien“, fügt er hinzu.
Trotzdem wirkt die Krise sich auf das Finanzierungskonzept von Hinz&Kunzt aus. Eigentlich ist die Idee, dass die Zeitung sich durch den Verkauf selbst trägt. Alles andere – die laufenden Kosten im Haus, die Bezahlung aller Festangestellten – wird durch Spenden finanziert. Die sinkenden Einnahmen durch Zeitungsverkäufe sorgen für eine Verschiebung. Bisher könnten die Einbußen noch durch Spenden ausgeglichen werden, so Sturm. Allerdings brauche es langfristige Lösungen.
Verzweifeln angesichts der Krise? Für Sturm keine Option. Er denkt schon länger über Möglichkeiten nach, wie man eine Straßenzeitung wie Hinz&Kunzt auch digital verkaufen könnte. Zum Beispiel, indem Verkäufer*innen nur noch einen QR-Code zum Abscannen herausgeben, der Kund*innen für einen Monat Zugang zur digitalen Version des Magazins verschafft – damit der regelmäßige Kontakt zwischen Verkäufer*in und Kund*in erhalten bleibt.
Fast alle kennen den Namen, aber nicht das ganze Projekt
In Wien ist man schon so weit: Die Straßenzeitung Augustin hat vor drei Wochen eine App eingeführt. „Da kann man sehen: Es geht“, sagt Sturm.
Der Sprung ins Digitale allein werde aber nicht ausreichen, um die Zeitung auch in Zukunft zu erhalten, so der Geschäftsführer. Für nächstes Jahr ist deshalb eine Kampagne geplant. Mehr als 95 Prozent der Hamburger*innen kennen Hinz&Kunzt, viel weniger wissen, dass ein ganzes Sozialprojekt dahinter steht, erklärt Sturm die Ergebnisse einer aktuellen Leser*innenumfrage. Das müsse sich ändern.
Vielen sei etwa nicht klar, dass nur Einzelnen hilft, wer seiner Stammverkäuferin einen Euro spendet. Um das ganze Projekt zu unterstützen, müsse man eine Zeitung kaufen, betont Sturm. „Und am besten nicht nur kaufen, sondern auch lesen.“ Schließlich sei das Magazin einfach ein gutes Produkt.
Das kommt nicht von irgendwo. Die Zeitung wird von fünf professionellen Redakteur*innen und vielen freien Journalist*innen und Fotograf*innen gemacht. Auch wenn soziale Themen wie Obdachlosigkeit, Armut oder miese Arbeitsbedingungen im Vordergrund stehen, ist Hinz&Kunzt vor allem ein schickes Stadtmagazin. Neben Reportagen finden sich Kulturtipps und Fotostrecken aus Hamburg und der Welt.
Immer mal wieder kommen Verkäufer*innen in die Redaktionsräume, um ein Thema vorzuschlagen. „Manchmal ist das dann ein Fall für die Sozialarbeit und manchmal eine Geschichte“, sagt Redakteurin Annette Woywode. Die Geschichte von Hinz&Kunzt-Verkäufer Nickolas, der im Schlaf in der Hamburger Innenstadt überfallen und verprügelt wurde, findet man zum Beispiel in der aktuellen Jubiläumsausgabe.
Das Magazin erarbeiten die Redakteur*innen als Kollektiv. Eine*n Chefredakteur*in gibt es nicht. Vor zwei Jahren haben sie sich dazu entschieden. „Das war erst mal ein Jahr auf Probe“, erklärt Woywode. Schnell sei aber klar geworden, dass die Arbeit ohne Chef*in für die Hinz&Kunzt-Redaktion gut funktioniert. Die Sozialarbeit ist dem Beispiel der Redaktion gefolgt, seitdem die Leitung in Rente gegangen ist, arbeiten auch sie ohne Chef*in.
Hamburgs Straßenzeitung hat schon vielen Menschen geholfen, aus prekären Situationen herauszukommen. Das soll nun gefeiert werden: mit einer Benefiz-Gala am Freitagabend. Eingeladen ist ganz Hamburg. Aber Hinz&Kunzt wäre nicht Hinz&Kunzt, würde man es beim Feiern belassen. Deswegen bereiten sich alle auf den Laternenumzug am Samstag vor. Verkäufer Torsten Meiners hat eine Lösung für das Problem mit dem Regen und zeigt auf seinen Schirm: „Ich bastel’ mir da eine Laterne rein“, sagt er und macht sich ans Werk.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?
Argentiniens Präsident Javier Milei
Schnell zum Italiener gemacht
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?