Straßburger Gerichtshof zu Whistleblower: Erst Akten lesen, dann anzeigen
Wann darf der Arbeitnehmer zum Whistleblower werden? Die Straßburger Richter haben dies im Fall eines deutschen Arztes klargestellt.
Lothar Gawlik war stellvertrender Chefarzt im Liechtensteinischen Landesspital, einer kleinen Klinik mit 34 Betten. Im September 2014 fiel ihm nach dem Hinweis einer Krankenschwester auf, dass binnen weniger Tage vier Patienten überraschend schnell gestorben waren. Alle vier hatten hohe Morphindosen erhalten und alle vier waren von Gawliks Vorgesetzten, dem Chefartz H., behandelt worden.
Gawlik prüfte die elektronischen Krankenakten und kam zu dem Verdacht, dass Chefarzt H. die Kranken absichtlich vorzeitig sterben ließ, um ihr Leiden zu beenden – eine Form von verbotener aktiver Sterbehilfe. Gawlik zeigte seinen Verdacht bei der Staatsanwaltschaft an. Er wollte weitere Todesfälle verhindern.
Doch es dauerte nicht lange, bis die Klinik erfuhr, wer hinter den Ermittlungen steckte. Gawlik wurde fristlos entlassen, weil er nicht zuerst eine interne Klärung versuchte. Da es nur eine einzige Klinik in Liechtenstein gibt, musste Gawlik sogar den Kleinstaat verlassen.
Die Vorwürfe waren wohl falsch
Der deutsche Arzt klagte vor liechtensteinischen Gerichten auf Wiedereinstellung und Schadensersatz. Doch er hatte fast durchgehend keinen Erfolg, bis hin zum Staatsgerichtshof in der Hauptstadt Vaduz. Die Gerichte gingen davon aus, dass Gawliks Anschuldigungen falsch waren. Interne und externe Gutachter fanden das Vorgehen des Chefarztes gerechtfertigt, es seien notwendige Palliativbehandlungen gewesen. Gawlik hält seinen Verdacht immer noch für gerechtfertigt und vor allem seine Kündigung für umzulässig. Deshalb wandte er sich mit letzter Hoffnung an den EGMR in Straßburg.
Doch auch beim Straßburger Gerichtshof hatte der Arzt keinen Erfolg. Eine mit sieben RichterInnen besetzte Kammer entschied einstimmig, dass die Kündigung verhältnismäßig war, weil Gawlik nur die elektronischen Patientenakten studiert hatte, bevor er Strafanzeige stellte. Er hätte aber auch die ausführlicheren schriftlichen Akten prüfen müssen, dann wäre ihm sofort aufgefallen, dass er mit seinem Verdacht falsch lag.
Der EGMR prüft bei der Abwägung in Whistleblower-Fällen in der Regel sechs Kriterien: Hat der Whistleblower lautere Interessen? Liegt die Information im öffentlichen Interesse? Ist sie wahr? Wie hoch ist der Schaden für den Arbeitgeber? Welche Sanktion wurde dem Whistleblower auferlegt? Und hätte es eine andere Möglichkeit gegeben, den mutmaßlichen Mißstand abzustellen?
Arzt hat neue Anstellung gefunden
Im Fall von Gawlik ging es vor allem um die Wahrheit der Informationen. Die EGMR-Richter betonten, dass es nicht automatisch zu lasten eines Whistleblowers gehe, wenn sich sein Verdacht im Laufe weiterer Untersuchungen als falsch entpuppt. Doch er muss, bevor er sein Unternehmen beschuldigt, alles zumutbare versuchen, um die Korrektheit der Informationen zu prüfen. Im Fall von Gawlik nahmen die Liechtensteiner Gerichte an, dass er als stellvertretender Chefarzt jederzeit Zugang zu den schriftlichen Akten hatte und deren Prüfung auch keine (mutmaßlich lebensgefährdende) Verzögerung mit sich gebracht hätte.
Eine andere Frage ließ der EGMR im Fall von Gawlik aber ausdrücklich offen: Hätte er sich zuerst an interne Stellen wenden müssen, bevor er seinen Vorgesetzten anzeigt? Dass Gawlik nicht das Gespräch mit dem verdächtigten Chefarzt suchen musste, war klar. Aber hätte ers sich vielleicht auch an den Spitaldirektor oder an den Präsident der Spitalstiftung wenden können? Da es für die Zulässigkeit der Kündigung hierauf nicht mehr ankam, konnte der EGMR die Frage unbeantwortet lassen – wie vor ihm schon der Liechtensteinische Staatsgerichtshof.
Lothar Gawlik hat nach längerem Suchen seit 2019 eine neue Anstellung gefunden, an einer Klinik in Verden (Niedersachsen).
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